Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
wissen.«
Aber da sie sich nicht vom Fleck rührte und immer noch stehenblieb, packte ich Pelz und Mütze und ging selbst, sie mitten im Zimmer zurücklassend. In meinem Zimmer gab es weder Briefe noch Papiere, und ich hatte es auch früher beim Weggehen fast niemals abgeschlossen. Aber ich war noch nicht bei der Haustür angelangt, als mein Vermieter, Pjotr Ippolitowitsch, ohne Hut und in Dienstuniform, mir auf der Treppe nachgelaufen kam.
»Arkadij Makarowitsch! Arkadij Makarowitsch!«
»Was denn noch?«
»Möchten Sie keine Anweisungen hinterlassen?«
»Keine.«
Er sah mich mit einem durchdringenden Blick und sichtlich beunruhigt an.
»Betreffs der Wohnung beispielsweise, wenn’s beliebt?«
»Was heißt ›betreffs der Wohnung‹? Ich habe Ihnen doch das Geld termingerecht überwiesen?«
»Ach nein, wenn’s beliebt, ich meine nicht wegen des Geldes«, lächelte er plötzlich mit einem breiten Lächeln, ohne seinen bohrenden Blick abzuwenden.
»Aber was ist denn in euch gefahren?« brüllte ich schließlich in fast tierischer Wut, »und was wollen Sie denn?«
Er ließ noch einige Sekunden verstreichen, als erwarte er noch etwas von mir.
»Nun ja, dann heißt das, Sie werden später Ihre Anweisungen geben … wenn Ihnen jetzt nicht danach ist«, murmelte er, noch breiter lächelnd, »also adieu, wenn’s beliebt. Ich muß ja auch zum Dienst.«
Und er lief die Treppe wieder hinauf. Natürlich, das alles hätte mich zum Nachdenken bringen sollen. Ich lasse mit Bedacht nicht die geringste Kleinigkeit in dem damaligen trivialen Durcheinander aus, weil jede Kleinigkeit sich später in das endgültige Bouquet dort einfügte, wo sie ihren Platz hatte, wovon der Leser sich glaubhaft überzeugen wird. Und daß man mich damals wirklich verrückt machte – das ist die Wahrheit. Wenn ich so erregt und gereizt war, so lag es daran, daß ich in ihren Worten diesen Ton von Intrige und Rätsel heraushörte, der mich an das Alte erinnerte. Aber ich fahre fort.
Werssilow war nicht zu Hause, er war tatsächlich schon bei Tagesanbruch fortgegangen. “Natürlich zu Mama”, beharrte ich im stillen. Die Amme, ein ziemlich dummes Weib, fragte ich nicht, und außer ihr befand sich kein Mensch in der Wohnung. Ich rannte darauf zu Mama, und zwar, muß ich gestehen, in einer solchen Unruhe, daß ich mich auf halbem Wege in eine Droschke setzte. Bei Mama war er seit gestern abend nicht gewesen. Bei Mama waren nur Tatjana Pawlowna und Lisa. Sobald ich das Zimmer betrat, machte Lisa Anstalten zu gehen.
Sie saßen alle oben, in meinem »Sarg«. In unserem Salon, unten, lag auf dem Tisch Makar Iwanowitsch, irgendein alter Mann las langsam und gemessen über ihm den Psalter. Ich werde jetzt nichts mehr beschreiben, was nicht unmittelbar zur Sache gehört, möchte jedoch erwähnen, daß der bereits angefertigte schwarze, mit Samt beschlagene Sarg, der hier im Zimmer stand, keineswegs billig war, ebenso wie die über den Toten gebreitete Leichendecke, ein Luxus, der dem Greis nicht entsprach und ebensowenig seinen Überzeugungen, sondern auf den gemeinsamen inständigsten Wunsch Mamas und Tatjana Pawlownas zurückzuführen war.
Selbstverständlich hatte ich nicht damit gerechnet, sie in fröhlicher Stimmung anzutreffen, aber jener besondere, drückende Kummer, voll Sorge und Unruhe, den ich in ihren Augen las, überraschte mich beim ersten Blick, und ich schloß daraus sogleich, daß »hier gewiß nicht allein der Verstorbene die Ursache« sei. All das, ich wiederhole, habe ich mir sehr genau gemerkt.
Ungeachtet alles dessen nahm ich Mama liebevoll in die Arme und fragte sogleich nach ihm. In Mamas Blick blitzte sofort Unruhe und Neugier auf. Ich fügte eilig hinzu, daß wir den gestrigen Abend bis in die tiefe Nacht hinein zusammen verbracht hätten, daß er aber heute seit Tagesanbruch nicht zu Hause sei, obwohl er mich erst gestern beim Abschied von sich aus aufgefordert habe, heute möglichst früh zu kommen. Mama antwortete darauf nichts, und Tatjana Pawlowna drohte mir mit dem Finger.
»Adieu, Bruder«, verabschiedete sich Lisa plötzlich und ging schnell aus dem Zimmer. Ich eilte ihr selbstverständlich nach, aber sie blieb erst an der Wohnungstür stehen.
»Ich habe mir ja gedacht, daß du so schlau bist und herunterkommst«, flüsterte sie hastig.
»Lisa, was geht hier vor?«
»Ich weiß es ja auch nicht, aber es ist mancherlei. Wahrscheinlich geht es um die Lösung ›der ewigen Geschichte‹. Er ist nicht
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