Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Lieber …«
»Nein, sehen Sie, Dolgorukij, ich trete allen gegenüber dreist auf und werde jetzt anfangen, zu saufen und zu prassen. Man wird mir bald einen noch kostbareren Pelz nähen, und ich werde nur mit Trabern auffahren. Aber ich werde im stillen wissen, daß ich bei Ihnen nicht Platz genommen habe, weil ich selbst das Urteil über mich gefällt habe und weil ich vor Ihnen eine gemeine Kreatur bin. Und das wird für mich eine angenehme Erinnerung bleiben, wenn ich ehrlos feiern werde. Leben Sie wohl, ja, leben Sie wohl. Ich reiche Ihnen nicht die Hand. Schon Alphonsina ekelt sich vor meiner Hand. Und ich bitte Sie, laufen Sie mir nicht nach und kommen Sie auch nicht zu mir; wir stehen unter Vertrag.«
Der sonderbare Knabe drehte sich auf dem Absatz um und ging. Ich hatte es jetzt sehr eilig, aber ich nahm mir vor, ihn unbedingt demnächst aufzusuchen, sobald unsere Angelegenheiten erledigt wären.
Diesen Vormittag werde ich nicht beschreiben, obwohl manches erwähnenswert war. Werssilow war zur Totenmesse nicht erschienen, und nach ihren Mienen zu urteilen, hätte man schon vor der Aussegnung schließen können, daß sie ihn in der Kirche auch nicht erwartet hatten. Mama betete andächtig und ging offensichtlich völlig im Gebet auf. Den Sarg geleiteten nur Tatjana Pawlowna und Lisa. Aber nichts, gar nichts möchte ich beschreiben. Nach der Beisetzung kehrten alle nach Hause zurück und setzten sich zu Tisch, und wiederum konnte ich aus ihren Mienen schließen, daß sie ihn wohl auch nicht zu Tisch erwartet hatten. Als wir uns nach dem Essen erhoben, ging ich auf Mama zu, umarmte sie heiß und gratulierte zum Geburtstag; Lisa folgte meinem Beispiel.
»Paß auf, Bruder«, flüsterte mir Lisa heimlich zu, »sie warten auf ihn.«
»Ich hab’s erraten, Lisa, ich sehe es ihnen an.«
»Er wird bestimmt kommen.«
Sie müssen also eine genaue Nachricht erhalten haben, dachte ich, aber ich stellte keine Fragen. Auch wenn ich meine Gefühle nicht beschreibe – diese ganze Geheimnistuerei wälzte sich wieder, ungeachtet meiner munteren Laune, plötzlich wie ein Stein auf mein Herz. Wir alle ließen uns im Salon um den runden Tisch um Mama nieder. Oh, wie tat es mir damals wohl, bei ihr zu sein und sie anzusehen! Plötzlich bat sie mich, etwas aus dem Evangelium vorzulesen. Ich las ein Kapitel aus Lukas. Sie weinte nicht und war sogar nicht einmal besonders traurig, aber niemals war mir ihr Gesicht so gedankenvoll und vergeistigt vorgekommen. In ihrem stillen Blick leuchtete eine Idee, aber ich konnte während der ganzen Zeit nicht bemerken, daß sie irgend etwas unruhig erwartete. Die Unterhaltung riß nicht ab; man erinnerte sich an den Verstorbenen, sehr vieles von ihm, was ich zum ersten Mal hörte, erzählte auch Tatjana Pawlowna. Und überhaupt, wenn man es aufschriebe, würde viel Interessantes zusammenkommen. Sogar Tatjana Pawlowna hatte ihr übliches Benehmen geändert: Sie war sehr still, sehr freundlich und vor allem ebenfalls sehr ruhig, obwohl sie viel erzählte, um Mama zu unterhalten. Aber ein Detail ist mir besonders aufgefallen: Mama saß auf dem Diwan, und links von dem Diwan, auf einem separaten runden Tischchen, lag eine Ikone, gleichsam für irgend etwas Bestimmtes vorbereitet – eine sehr alte Ikone, ohne Oklad, nur mit Heiligenscheinen über den Häuptern der beiden dargestellten Heiligen. Diese Ikone hatte Makar Iwanowitsch gehört – das wußte ich, und ich wußte ebenfalls, daß der Verstorbene sich von dieser Ikone niemals getrennt und sie für wundertätig gehalten hatte. Tatjana Pawlowna blickte einige Male zu ihr hinüber.
»Hör mal, Sofja«, sagte sie plötzlich, um das Thema zu wechseln, »statt die Ikone liegen zu lassen, sollte man sie nicht lieber aufstellen, auf diesem Tisch, an die Wand gelehnt, und vor ihr das Ewige Licht anzünden?«
»Nein, besser so wie jetzt«, sagte Mama.
»Ja, stimmt. Sonst wäre es zu feierlich …«
Ich habe das damals nicht verstanden, aber es ging darum, daß Makar Iwanowitsch diese Ikone schon vor langer Zeit Andrej Petrowitsch vermacht hatte, mündlich, und daß Mama sich vorbereitete, sie ihm heute zu übergeben.
Es war schon fünf Uhr nachmittags; unsere Unterhaltung ging munter weiter, als ich plötzlich in Mamas Gesicht ein leises Zucken bemerkte; sie richtete sich auf und horchte, während gleichzeitig Tatjana Pawlowna ihre Erzählung fortsetzte, ohne etwas zu bemerken. Ich drehte mich sofort um, zur Tür, und erblickte einen
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