Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Augenblick später in der Tür Andrej Petrowitsch. Er war nicht über den Haupteingang, sondern über die Hintertreppe hereingekommen, durch Küche und Korridor, und Mama war die einzige von uns, die seine Schritte erkannt hatte. Jetzt werde ich die darauffolgende rasende Szene beschreiben, Geste für Geste, Wort für Wort; sie war kurz.
Zunächst fiel mir, wenigstens auf den ersten Blick, in seinem Gesicht nicht die geringste Veränderung auf. Gekleidet war er wie immer, also beinahe elegant. In den Händen trug er einen nicht großen, aber teuren Strauß frischer Blumen. Er trat näher und überreichte ihn lächelnd Mama; diese warf ihm einen scheuen und verständnislosen Blick zu, nahm aber den Strauß entgegen, und plötzlich belebte eine leichte Röte ihre blassen Wangen, und in ihren Augen leuchtete Freude auf.
»Ich habe gewußt, daß du ihn so entgegennimmst, Sonja«, sagte er. Da wir alle bei seinem Eintreten aufgestanden waren, nahm er, als er an den Tisch trat, Lisas Sessel, der links neben Mama stand, und setzte sich, ohne zu merken, daß er einen fremden Platz einnahm. Auf diese Weise befand er sich unmittelbar neben dem Tischchen, auf dem die Ikone lag.
»Guten Abend euch allen. Sonja, ich wollte dir heute unbedingt diesen Strauß bringen, an deinem Geburtstag, und bin deshalb nicht zur Beisetzung gekommen, um nicht mit einem Strauß bei einem Toten zu erscheinen; aber du selbst hast ja auch mich zu der Beisetzung nicht erwartet, das weiß ich. Der alte Mann wird uns sicher diese Blumen nicht verübeln, denn er hat uns selbst doch Freude anbefohlen, nicht wahr? Ich denke, er ist hier irgendwo in diesem Zimmer.«
Mama warf ihm einen sonderbaren Blick zu; Tatjana Pawlowna zuckte förmlich zusammen.
»Wer soll hier im Zimmer sein?« fragte sie.
»Der Verstorbene. Lassen wir das. Sie wissen doch, daß ein Mensch, der nur bedingt an all diese Wunder glaubt, eine besondere Neigung zum Aberglauben entwickelt … Aber ich bleibe lieber bei dem Strauß: Wie ich ihn heil hierhergebracht habe – ist für mich unbegreiflich. Unterwegs hat mich dreimal der Wunsch überkommen, ihn in den Schnee zu werfen und mit dem Fuß zu zertrampeln.«
Mama schauerte.
»Ein heftiger Wunsch. Hab Mitleid mit mir, Sonja, und mit meinem armen Kopf. Ich hatte den Wunsch, weil er viel zu schön ist. Welches Ding auf der Welt ist schöner als eine Blume? Ich trage ihn mitten durch Schnee und Frost. Unser Frost und Blumen – was für ein Kontrast! Übrigens war es mir um etwas anderes zu tun: Ich wollte ihn einfach zertrampeln, weil er schön ist. Sonja, ich werde jetzt wieder verschwinden, aber auch sehr bald zurückkommen, weil ich es mit der Angst zu tun bekomme, glaube ich. Ich werde es mit der Angst zu tun bekommen – wer soll mich dann von dem Schrecken heilen, wo kann ich einen Engel hernehmen wie Sonja? … Was habt ihr da für eine Ikone? Ah, sie gehörte dem Verstorbenen, ich erinnere mich. Ein Erbstück, von seinem Großvater; er hat sich nie im Leben von ihr getrennt; ich weiß, ich erinnere mich, er hat sie mir hinterlassen; ich weiß es sehr genau … ich glaube, sie ist von den Altgläubigen … Laßt mich sie anschauen.«
Er nahm die Ikone in die Hand, hob sie zur Kerze empor und betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten, legte sie aber nach wenigen Sekunden wieder auf den Tisch, aber diesmal schon vor sich. Ich wunderte mich, aber all diese sonderbaren Reden brachte er so unvermutet hervor, daß ich mir noch nichts zusammenreimen konnte. Ich weiß nur, daß ein schmerzhafter Schrecken mein Herz durchdrang. Mamas Schrecken war in Verblüffung und Mitleid übergegangen; sie sah in ihm zuerst und vor allem nur den Unglücklichen; es war doch schon vorgekommen, daß er bisweilen fast ebenso sonderbar geredet hatte wie auch jetzt. Lisa war plötzlich aus irgendeinem Grund furchtbar bleich geworden und deutete kopfnickend auf ihn. Aber am meisten war Tatjana Pawlowna erschrocken.
»Aber was haben Sie, lieber Andrej Petrowitsch?« fragte sie vorsichtig.
»Wirklich, ich weiß nicht, meine liebe Tatjana Pawlowna, was ich habe. Machen Sie sich keine Sorgen, ich weiß ja noch, daß Sie Tatjana Pawlowna und daß Sie liebenswert sind. Aber ich komme nur für einen Augenblick; ich wollte Sonja etwas Gutes sagen und suche nur nach einem solchen Wort, wiewohl das Herz voller Worte ist, die auszusprechen mir einfach nicht gelingt; wirklich, und das sind alles so sonderbare Worte. Wissen Sie, mir scheint, als ob ich
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