Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Schuldzuweisungen alles auf einmal dem Fürsten zu erklären, ihn einzuschüchtern, zu erschrecken, auf die unausweichliche Zukunft in einer Irrenanstalt hinzuweisen, und wenn er sich daraufhin weigerte, entrüstet zweifelte, ihm den Brief seiner Tochter vorzulegen: “Schon einmal bestand die Absicht, ihn für verrückt zu erklären; und jetzt, um seine Heirat zu verhindern, ist die Gefahr um so wahrscheinlicher.” Und anschließend den eingeschüchterten und todtraurigen alten Mann kurzerhand nach Petersburg zu bringen – geradewegs in meine Behausung.
Das war ein furchtbares Risiko, aber sie vertraute unerschütterlich auf ihre Macht. Hier aber unterbreche ich für einen Augenblick den Lauf meiner Erzählung und füge ein, indem ich sehr weit vorgreife, daß sie über den Effekt des Coups nicht enttäuscht sein brauchte; mehr noch, der Effekt überstieg alle ihre Erwartungen. Die Nachricht von diesem Brief übte auf den alten Fürsten eine möglicherweise viel stärkere Wirkung aus, als sie selbst und wir alle angenommen hatten. Ich hatte bis dahin nicht geahnt, daß dem Fürsten schon vorher einiges über diesen Brief bekannt gewesen war; aber nach der Gewohnheit aller schwachen und schüchternen Menschen wollte er dem Gerücht nicht glauben und wehrte es aus allen Kräften ab, nur um seine Ruhe zu bewahren; mehr noch, er machte sich selbst Vorwürfe wegen seiner gemeinen Leichtgläubigkeit. Ich möchte noch hinzufügen, daß die Tatsache der Existenz dieses Briefes auch auf Katerina Nikolajewna ungleich stärker gewirkt hatte, als ich es damals erwarten konnte … Mit einem Wort, dieses Papier erwies sich als viel wichtiger, als ich, der ich es in meiner Tasche trug, angenommen hatte. Aber damit habe ich schon zu weit vorgegriffen.
Aber warum denn, kann man fragen, zu mir, in meine Behausung? Wozu den Fürsten in unsere jämmerlichen Kämmerchen umquartieren und ihn vielleicht durch unser jämmerliches Interieur erschrecken? Wenn es schon nicht angebracht war, ihn in sein eigenes Haus zu bringen (weil man dort auf einen Schlag hätte behindert werden können), warum dann nicht in eine gemietete »prächtige« Wohnung, wie Lambert vorgeschlagen hatte? Aber gerade darin bestand das ganze Risiko von Anna Andrejewnas extraordinärem Coup.
Die Hauptsache war, dem Fürsten sofort nach seinem Eintreffen das Dokument vorzulegen; ich aber hatte mich strikt geweigert, das Dokument herauszurücken. Aber da es nun galt, keine Zeit mehr zu verlieren, hatte Anna Andrejewna im Vertrauen auf ihre Macht beschlossen, die Aktion auch ohne das Dokument durchzuführen, aber unter der Bedingung, daß der Fürst geradewegs zu mir gebracht würde – wozu? Nun ja, eben dazu, um auf einen Zug auch mich zu kapern, und nach dem Sprichwort, mit einem Stein zwei Spatzen zu treffen. Sie rechnete damit, daß auch ich der Erschütterung, der Überrumpelung, der Plötzlichkeit erliegen würde. Sie überlegte, daß auch ich, wenn ich den alten Mann bei mir sähe, seinen Schrecken, seine Hilflosigkeit und ihrer beider Flehen vernähme, die Waffen strecken und das Dokument aushändigen würde! Ich gebe zu – die Rechnung war listig und klug, sie war psychologisch richtig, mehr noch – es fehlte nicht viel, und Anna Andrejewna hätte Erfolg gehabt … was den alten Fürsten betrifft, so hatte sie ihn damals überzeugt und sein Vertrauen gewonnen, und zwar sobald sie ihm geradeheraus erklärt hatte, sie müsse ihn zu mir bringen. Das habe ich erst später erfahren. Schon die Nachricht, daß dieses Dokument sich bei mir befinde, tilgte in seinem furchtsamen Herzen die letzten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Tatsache – so sehr hat er mich geliebt und geschätzt!
Ich möchte hinzufügen, daß Anna Andrejewna selbst nicht eine Minute gezweifelt hatte, daß das Dokument sich bei mir befände und ich es noch nicht aus den Händen gegeben hätte. Vor allem hatte sie meinen Charakter mißverstanden und rechnete zynisch mit meiner Unschuld und Harmlosigkeit, sogar mit meiner Empfindsamkeit; andererseits nahm sie an, daß ich, falls ich mich entschlossen hätte, den Brief aus der Hand zu geben, zum Beispiel an Katerina Nikolajewna, es nicht anders als unter irgendwelchen besonderen Umständen tun würde, und diesen Umständen beeilte sie sich zuvorzukommen, unversehens, im Angriff, durch einen Coup.
Und schließlich hatte auch Lambert sie in allem bestätigt. Ich habe schon gesagt, daß Lamberts Lage in dieser Zeit äußerst kritisch
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