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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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auswendig gelernt und jeden Tag Andronikow eine Fabel rezitiert, wozu ich ihn in seinem winzigen Kabinett aufsuchte, ob er nun beschäftigt war oder nicht. So weit, so gut, dank einer Fabel wurde ich auch mit Ihnen bekannt, Andrej Petrowitsch … Ich sehe, Sie beginnen sich zu erinnern.«
    »Irgend etwas taucht wieder auf, mein Lieber, du hast mir nämlich damals etwas rezitiert … eine Fabel, oder vielleicht aus ›Verstand schafft Leiden‹? Aber was hast du für ein Gedächtnis!«
    »Gedächtnis! Wie sollte es auch anders sein! Ich habe ja mein Leben lang nichts anderes gedacht.«
    »Schon gut, schon gut, mein Lieber, du läßt mich sogar aufleben.«
    Er lächelte sogar, und darauf lächelten auch Mutter und Schwester. Das Vertrauen schien zurückzukehren; aber Tatjana Pawlowna, die die Leckereien auf dem Tisch verteilt und sich mit unheilverkündender Miene in eine Ecke zurückgezogen hatte, ließ mich nicht aus den Augen.
    »Es war so«, fuhr ich fort, »daß plötzlich, eines schönen Vormittags, die Freundin meiner Kindertage, Tatjana Pawlowna, erschien, die stets in meinem Leben unerwartet auftauchte, wie im Theater, und ich in irgendein Palais gebracht wurde, in eine prachtvolle Wohnung. Sie waren damals bei der Fanariotowa abgestiegen, Andrej Petrowitsch, in ihrem leerstehenden Haus, das sie Ihnen irgendwann abgekauft hatte; sie selbst hielt sich damals im Ausland auf. Ich hatte bis dahin immer Jacken getragen, aber plötzlich wurde ich in ein hübsches blaues Überröckchen und in luxuriöse Wäsche gesteckt. Tatjana Pawlowna war den ganzen Tag mit mir beschäftigt und hat mir viele Dinge gekauft; ich aber ging die ganze Zeit in den leeren Zimmern umher und betrachtete mich in allen Spiegeln. Und so kam es, daß ich am nächsten Morgen, es war etwa zehn, auf meinem Streifzug durch die Wohnung plötzlich völlig unerwartet in Ihrem Kabinett stand. Ich hatte Sie schon am vorigen Tag gesehen, gerade als ich gebracht wurde, aber nur flüchtig, im Treppenhaus. Sie kamen die Treppe herunter, um sich in die Kutsche zu setzen und irgendwohin zu fahren; Sie waren in Moskau allein eingetroffen, nach einer sehr langen Abwesenheit und auch nur für kurze Zeit, so daß man Sie von allen Seiten in Beschlag nahm und Sie zu Hause fast nie anzutreffen waren. Als Sie uns, Tatjana Pawlowna und mir, begegneten, begrüßten Sie uns mit einem gedehnten ›Ah!‹ und blieben nicht einmal stehen.«
    »Er schildert mit besonderer Liebe«, bemerkte Werssilow zu Tatjana Pawlowna; die wandte sich ab, ohne etwas zu sagen.
    »Ich habe Sie heute noch vor Augen, wie Sie damals waren, blühend und schön. Sie sind in neun Jahren erstaunlich gealtert und haben viel von Ihrer Schönheit eingebüßt, verzeihen Sie mir meine Offenheit; übrigens hatten Sie schon damals Ihre siebenunddreißig Jahre hinter sich, aber ich habe mich damals sogar in Sie vergafft: Ihr Haar war bewundernswert, fast ganz schwarz, mit einem schimmernden Glanz, ohne auch nur ein einziges weißes Fädchen; der Schnurrbart und Backenbart waren reinste Juwelierarbeit – ein anderer Ausdruck fällt mir nicht ein; das Gesicht von matter Blässe, aber nicht so krankhaft bleich wie heute, sondern so wie jetzt bei Ihrer Tochter Anna Andrejewna, der kürzlich zu begegnen ich die Ehre hatte; feurige dunkle Augen und blitzende Zähne, besonders wenn Sie lachten. Sie haben nämlich bei meinem Anblick gelacht, als ich in dem Zimmer auftauchte. Ich konnte damals noch wenig unterscheiden, und Ihr Lächeln machte mich herzensfroh. Sie trugen an jenem Vormittag einen dunkelblauen Samtrock, ein Halstuch in Solferino über dem prachtvollen Hemd mit Alençon -Spitze, Sie standen vor dem Spiegel mit einem Heft in der Hand und deklamierten den letzten Monolog Tschatzkijs , insbesondere seinen letzten Ausruf:
    Den Wagen mir, den Wagen!«
    »Ach, mein Gott«, rief Werssilow, »das ist ja wahr! Ich hatte es damals übernommen, ungeachtet der Kürze meines Aufenthaltes in Moskau, für den kranken Schilejko einzuspringen und bei Alexandra Petrowna Witowtowa, in ihrem Hause, den Tschatzkij zu spielen!«
    »Ist es möglich, daß Sie das vergessen haben?« lachte Tatjana Petrowna.
    »Er hat mich daran erinnert! Ich gestehe, daß diese wenigen Moskauer Tage damals vielleicht die schönste Zeit meines ganzen Lebens waren. Wir alle waren damals noch so jung … und warteten damals noch so glühend auf … Ich traf damals in Moskau unerwartet auf so viel … Aber fahr nur fort, mein Lieber:

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