Ein guter Blick fürs Böse
Version der Geschichte zu glauben. Und weil Victorine Guillaume in jungen Jahren ein ausgelassenes Leben geführt hat, weil sie uns offensichtlich misstraut und weil es schwierig ist, mit ihr zu reden, sind wir versucht, allem mit Misstrauen zu begegnen, was von ihr kommt. Das schließt ihren Bericht von einem alten Streit ein, der sich nach ihren Worten zwischen den beiden Männern abspielte. Gut möglich, dass Victorine selbst ihr eigener schlimmster Feind ist. Bedenken Sie, Sir, Thomas hat nicht ein einziges Mal versucht, mit Jonathan in Kontakt zu treten nach seiner Rückkehr aus Frankreich vor mehr als einem Jahr. Er wohnte in London, südlich der Themse, ganz in der Nähe meines Hauses. Er überquerte regelmäßig die Waterloo Bridge auf dem Weg in die Stadt, wo er den Tag verbrachte. Lizzie ist ihm häufiger begegnet. Jenkins in seinem Clownskostüm hat ihn dort aufgespürt. Und trotzdem ist Thomas nicht ein einziges Mal bis zum Haus seines Cousins gekommen oder auch nur bis zur Kanzlei in der Gray’s Inn Road. Thomas hat sich mit seiner Tochter in einer öffentlichen Bücherei getroffen und sie zu Verschwiegenheit über ihr Treffen verpflichtet. Er stimmte zu, als sie vorschlug, sich zu verkleiden und ihn so zu besuchen. In meinen Augen passt das alles zu einem Mann, der seinem Cousin nicht über den Weg traute und, mehr noch, sich davor fürchtete, Jonathan könnte herausfinden, dass Thomas wieder in London ist.
Lag es nur daran, dass Thomas sein Wort gebrochen hatte, nie wieder zurückzukommen? Fürchtete er Jonathans Zorn? Das Wiederaufleben des alten Skandals? Oder etwas ganz anderes? Als ich zum ersten Mal mit Jonathan Tapley sprach, sagte er etwas Merkwürdiges. Es kam mir zu dem Zeitpunkt lediglich ein wenig geschmacklos vor, doch ich muss immer wieder daran denken. Ich hatte seinen malaiischen Gehstock bemerkt mit dem Schädel als Knauf. Er sah, dass er mein Interesse erweckte. Er hielt ihn hoch und bemerkte, dass er ihn nicht benutzt hätte, um seinem Cousin den Schädel einzuschlagen. Ich war ein wenig überrascht, dass ein Mann wie er zu einem so unangemessenen Zeitpunkt so eine derbe Bemerkung machte … warum? Warum hat er das gesagt? Wollte er meinen eventuell aufkeimenden Verdacht von vornherein ablenken?«
»Vermutungen, nichts als Vermutungen«, grollte Dunn.
»Geben Sie mir wenigstens die Chance, Sir, Tapleys Alibi noch einmal zu überprüfen. Wenn ich es knacken kann … wenn es mir gelingt, irgendwo ein Schlupfloch zu finden …«
»Sie werden nichts erreichen, außer ihn gegen sich aufzubringen und uns lächerlich dastehen zu lassen!«, polterte Dunn. »Wie wollen Sie sein Alibi für den Zeitpunkt des Mordes knacken, wenn das pathologische Gutachten aussagt, dass das Opfer nach fünf Uhr an jenem Tag starb?«
»Nun, Sir«, erwiderte ich. »Was das angeht, habe ich eine Idee, die ich gerne überprüfen würde.«
Dunn riss die Hände hoch und ließ sie auf den Schreibtisch fallen, dass es krachte. »Eine Idee? Ross, Sie sind voller Ideen, jede einzelne verrückter als die vorhergehende! Was denn nun schon wieder für eine Idee, und woher haben Sie sie?«
Ich gestattete mir ein Lächeln, das den Superintendent zu erschrecken schien. »Von einer Rindfleisch-Nieren Pastete, Sir.«
Bei diesen Worten blickte der Superintendent womöglich noch erschrockener drein, bis ich ihm meine Idee erklärte. »Hmmm«, murmelte er dann. »Achtundvierzig Stunden, Ross. Ich gebe Ihnen achtundvierzig Stunden. Wenn Sie bis dahin keine Beweise gegen Jonathan Tapley zusammenbringen, werde ich Hector Mas persönlich wegen Mordes an Thomas Tapley unter Anklage stellen.«
Elizabeth Martin Ross
»Ich hab gehört, Ihr Macker hat ’nen Franzmann verhaftet wegen dem Mord an dem alten Kerl aus Ihrer Straße.«
Die Stimme kam aus dem Nichts und ließ mich zusammenzucken. Ich wirbelte herum, und eine Bewegung im Schatten eines Eingangs materialisierte zu den ebenso vertrauten wie zerlumpten Umrissen von Joey, dem Jungen aus den Kohlenkellern.
»Du bist es!«, rief ich erleichtert. »Wo hast du die ganze letzte Zeit gesteckt? Ich habe überall nach dir gesucht!«
»Ehrlich?« Joey legte das Gesicht in misstrauische Falten. »Ich hab mir so was gedacht, also hab ich mich verzogen, okay?«
»Aber warum?«
Er antwortete so geduldig, als wäre ich schwer von Begriff. »Weil Sie Ihrem Macker sicher erzählt ha’m, was ich Ihnen gesagt hab über den jungen Stenz, der dem alten Tapley von der Straße aus
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