Ein guter Blick fürs Böse
vielmehr, dass beide getrennt agiert haben, ohne dass der eine vom anderen wusste. Victorine und ihr Handlanger Mas haben ihr tödliches Spiel gespielt und Jonathan Tapley sein eigenes. Normalerweise haben wir nur eine Partei von Übeltätern. Diesmal, schätze ich, haben wir zwei.«
Dunn schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, Ross, das glaube ich nicht.«
»Mrs. Jameson hat einen Mann auf der Straße vor ihrem Haus gesehen«, beharrte ich. »Wie ich Ihnen bereits berichtet habe. Er ist vor ihrem Haus die Straße auf und ab gegangen am Nachmittag des Mordes. Als die Witwe Jameson bei der Beerdigung Jonathan Tapley sah, erkannte sie ihn wieder. Er war dieser Mann. Sie ist sich völlig sicher. Also, wir haben keinen Zeugen, der Hector Mas in der Gegend oder vor dem Haus gesehen hat, aber wir haben einen verlässlichen Zeugen, der Jonathan Tapley am Nachmittag des Mordes gesehen hat.«
»Verlässlich? Eine alte Dame, deren Augen möglicherweise nicht mehr die besten sind. Sie hat durch das Fenster einen Mann gesehen, in einer gewissen Entfernung, und jetzt ist sie bereit zu schwören, dass es Jonathan Tapley war? Kommen Sie, Ross, ganz im Ernst – die Geschworenen würden das nicht akzeptieren.«
»Wir müssen die Möglichkeit dennoch im Auge behalten. Nun ist es so, dass Mrs. Jameson den Mann gegen drei Uhr nachmittags oder kurz danach gesehen hat …«
»Sehen Sie?«, unterbrach mich Dunn triumphierend. »Wie um alles in der Welt soll Jonathan Tapley die Tat begangen haben? Der Mord hat sich gemäß dem Obduktionsbericht des Pathologen irgendwann zwischen fünf und kurz vor der Entdeckung des Leichnams kurz nach sieben Uhr ereignet. Jonathan Tapley kann es nicht gewesen sein! Er hat Alibis für den entsprechenden Zeitraum. Er war den ganzen Tag im Gericht. Um halb fünf war er in seiner Kanzlei und hat etwas gegessen. Um fünf hat er ebendort eine Konferenz abgehalten. All das während der Zeit, in welcher sich der Mord an Thomas Tapley ereignet hat! Jonathan Tapley hat uns eine Liste der Personen gegeben, die zur fraglichen Zeit in der Kanzlei waren und mit ihm gesprochen haben. Abgesehen davon, Herrgott noch mal, Ross – warum hätte er seinen Cousin ermorden sollen?«
»Sir, wenn ich Ihnen erklären dürfte, wie ich das sehe …«, begann ich.
»Ich bitte sogar darum«, sagte Dunn sarkastisch mit einer ausholenden Bewegung seiner ausgestreckten Hand. »Ich gestehe, Ross, ich bin ganz fasziniert. Schießen Sie los, Mann!«
Und so legte ich ihm behutsam meine Gründe dar.
»Victorine hat wiederholt gesagt, ihr Mann hätte ihr erzählt, dass er und sein Cousin zerstritten waren. Es gab ein bitteres Zerwürfnis zwischen ihnen. Das mag sein oder nicht – allerdings sollten wir nicht von vornherein alles als Lüge abtun, was Guillaume uns erzählt, auch wenn sie eine verschlagene Person ist. Sie verdreht die Fakten ein wenig, bis sie ihren Zwecken genügen, und trotzdem bleibt sie dabei halbwegs bei der Wahrheit. Die Frage ist nun – gab es eine Feindschaft zwischen den beiden Tapleys oder nicht?
Bedenken Sie, Sir – Jonathan hat seinen Cousin gezwungen, das Land zu verlassen. Er hat seinem Cousin das einzige Kind weggenommen, seine Tochter Flora. Wir haben allen Grund zu glauben, dass Thomas seine Tochter hingebungsvoll liebte. Meine Frau hat herausgefunden, dass er Flora heimlich in London besucht hat und dass er sich große Sorgen gemacht hat wegen ihrer bevorstehenden, möglicherweise desaströsen Heirat. So viel wissen wir aus Floras eigenem Mund.
Nach Jonathans Worten jedoch war das Arrangement mit seinem Cousin freundschaftlich gewesen. Thomas war Jonathan und seiner Frau demnach dankbar, dass sie seine kleine Tochter bei sich aufnahmen und wie ein eigenes Kind aufzogen. Thomas fand es ›schwierig‹, seine Tochter zu besuchen, behauptet Jonathan, und das ist der Grund, warum seine Besuche so selten und kurz waren. Doch stimmt das? Nach Jonathans Darstellung stimmte Thomas ihm zu, dass es besser war, wenn er das Land in Richtung Frankreich verließ und nie wieder zurückkehrte. Hat er sich ohne Widerstand gefügt? Wir wissen es nicht, und falls er versucht hat, sich zu widersetzen, dann hat Jonathan uns das verschwiegen. Meiner Meinung nach gibt es eine Diskrepanz zwischen dem, was Jonathan uns erzählt hat, und dem, was wir von Flora selbst über das Verhalten ihres Vaters wissen, nachdem er zurück war in London.
Jonathan ist ein geachteter Rechtsanwalt, deswegen sind wir geneigt, seiner
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