Ein guter Blick fürs Böse
auf einem niedrigen Tisch stand griffbereit eine Karaffe mit Sherry. Der Schreibtisch war aus Mahagoni, und an den Wänden reihten sich ledergebundene Folianten. Ich warf einen kurzen Blick darauf und erkannte, dass sie ausnahmslos verschiedenste Themen der Jurisprudenz behandelten. Sollte Tapley einmal unsicher sein, so musste er nur die Hand ausstrecken und konnte alles nachschlagen.
Mein forschender Blick war nicht unbemerkt geblieben.
»Der Raum ist zwar gemütlich, doch recht klein für seine Zwecke«, bemerkte Tapley. »Ich habe einen Partner, doch er hält sich derzeit außerhalb auf, so dass wir ungestört sind.«
Er bedeutete mir mit einem eleganten Wink Platz zu nehmen. Ich ließ mich in einen der Lehnsessel sinken. Tapley hingegen blieb stehen. Dies verschaffte mir einen Nachteil, da er mich überragte. Der Anwalt Tapley wusste um all die kleinen Tricks, die man im Gerichtssaal anwandte, dachte ich säuerlich.
»Einen Sherry, Inspector?«
»Danke sehr, doch es ist uns nicht gestattet, im Dienst zu trinken«, erwiderte ich. Und das ist dir ganz bestimmt bekannt, nicht wahr?, hätte ich beinahe gefaucht.
»Natürlich.« Er ging zum Fenster und blieb mit auf dem Rücken verschränkten Händen davor stehen, während er nach draußen sah.
»Hatten Sie mittlerweile Gelegenheit, Ihrer Familie die traurige Neuigkeit zu überbringen?«, nahm ich das Gespräch in die Hand, entschlossen, mich nicht wie eine Marionette von ihm beeinflussen zu lassen.
Er drehte sich um und kam auf mich zu. »Gewiss. Genauer gesagt, ich habe es meiner Gattin erzählt. Es hat sie sehr getroffen. Ich musste es ihr überlassen, meine Nichte Flora zu unterrichten.« Er nahm in dem anderen Lehnsessel mir gegenüber Platz.
Flora?, überlegte ich. Es sah mehr und mehr danach aus, als handelte es sich bei dem von Morris in Harrogate ausfindig gemachten Thomas Tapley tatsächlich um den kürzlich verstorbenen, unglückseligen Untermieter der Witwe Jameson.
»Ich wäre dankbar für jedes noch so unbedeutende Detail bezüglich ihres verstorbenen Cousins, das Sie mir mitteilen können.«
Er nickte. »Ich werde mich bemühen, auch wenn es schmerzlich ist und mich in Verlegenheit bringt.« Er atmete tief durch. »Wir stehen beide in Diensten des Gesetzes, Inspector. Wir wissen beide, dass selbst die angesehensten Bürger und die ehrbarsten Familien ihre Geheimnisse haben, von denen sie nicht möchten, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen. Wir wissen auch, dass ein Mord ausgiebige Ermittlungen nach sich zieht. Üblicherweise führen sie zu der Person, die das Verbrechen ausgeübt hat. Sie fördern allerdings auch Geheimnisse zutage, ob man das nun will oder nicht. Die erforderliche gründliche Vorbereitung, um einen solchen Fall vor Gericht zu verhandeln, verwandelt das Leben manches Betroffenen in ein offenes Buch.«
Er hatte reichlich Zeit gehabt, um sich diese hübsche Rede zurechtzulegen. Doch ich las leichter zwischen den Zeilen, als er es mir zutraute. Ich antwortete, wie er es von mir erwartete.
»Selbstverständlich müssen dem zuständigen Ermittler Geheimnisse offengelegt werden. Doch sie sind lediglich von Interesse, wenn sie in direktem Zusammenhang mit dem Verbrechen stehen. Was für die Öffentlichkeit nicht interessant ist und keinen Bezug zum Verbrechen aufweist, nun, das muss selbstverständlich nicht für jedermann ruchbar werden.«
Ich glaubte Erleichterung bei ihm zu sehen. »Ganz recht«, stimmte er mir zu. »Ich danke Ihnen, Inspector.«
Bedauerlicherweise musste ich ihm gleich wieder einen Dämpfer versetzen. »Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass die Herren von der Presse das ganz anders sehen. Es ist gar nicht so einfach, ihnen etwas zu verheimlichen. Ich habe keinen Einfluss darauf, was sie mit den gefundenen Informationen anstellen.«
»Ich bin mir dessen bewusst«, entgegnete er bitter. »Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie die Presse in Schach halten, Ross. Es ist an mir selbst, das zu versuchen, hoffentlich mit Erfolg. Mir ist bewusst, dass es mir möglicherweise nicht gelingt.«
»Andererseits könnte uns die Presse auch von großem Nutzen sein«, merkte ich an. »Wäre es mir nicht möglich gewesen, die Meldung über das Auffinden einer Leiche in den Abendausgaben der Londoner Zeitungen zu inserieren, wären Sie nicht darauf aufmerksam geworden. Wir würden jetzt nicht diese Unterredung führen. Weitere Hinweise zu diesem Fall führen vielleicht dazu, dass sich irgendwo irgendjemand an
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