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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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liebevolle Frau der respektablen Sorte seinen Haushalt führte, das Essen kochte und den Platz all der hingebungsvollen weiblichen Verwandten aus seinen Kindertagen einnahm. Selbstverständlich war die Dame seiner Wahl völlig ahnungslos, was seine sexuellen Vorlieben anging, und niemand würde es ihr erzählen. Frauen aus gutem Haus sind im Allgemeinen recht unbedarft, was dieses Thema angeht, und in unserer Gesellschaft scheint es eine stillschweigende Vereinbarung zu geben, dass es auch so bleiben soll. Tom heiratete im Jahre 1848. Er war bereits Anfang vierzig. Sein fortgesetztes Junggesellenleben zog Gerede nach sich – vergessen Sie nicht, dass er gutsituiert war und sich eine Heirat durchaus hätte leisten können. Er wählte sorgfältig. Seine Frau war nicht mehr jung, bereits Ende dreißig. Ihre Familie hatte sich bereits gesorgt, sie könnte als alte Jungfer enden und einem Verwandten zur Last fallen, bis sie schließlich starb. Ihr selbst schien dieser Gedanke auch nicht zu gefallen. Sie war entzückt über die Gelegenheit, Herrin über ihren eigenen Hausstand zu werden. Mein Vater pflegte mit dem derben Humor eines Soldaten stets zu sagen, achtundvierzig wäre wahrhaftig das Jahr der Revolutionen, nachdem selbst Tom Tapley den Gang zum Altar gewagt hatte.«
    Jonathan Tapley musste tatsächlich lächeln. »Zu unser aller Überraschung erwies sich die Verbindung als sehr glücklich, und entgegen jeder Erwartung trug sie sogar Früchte. Noch im gleichen Jahr wurde eine Tochter geboren, fast auf den Tag neun Monate nach der Hochzeit. Ihr Name ist Flora, und sie ist heute neunzehn Jahre alt. Tom entwickelte sich nach der ersten Überraschung zum stolzesten Vater, den ich je gesehen habe.
    Bedauerlicherweise starb seine Frau, als Flora gerade drei Jahre alt war. Ärzte hatten mir und meiner Frau gesagt, wir müssten uns damit abfinden, niemals eigene Kinder zu haben. Wir erboten uns, Flora bei uns aufzunehmen und sie aufzuziehen. Tom war dankbar. Meine Frau und ich waren außer uns vor Freude, und das ist keine Übertreibung. Für uns war es ein Geschenk des Himmels. Flora hat unser Leben verändert, Inspector. Eine leibliche Tochter hätte uns nicht lieber sein können.«
    Er verstummte, und ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Zu hören und zu sehen, wie dieser selbstbewusste, arrogante Wichtigtuer seine menschliche Seite und seine Verwundbarkeit offenbarte, war sehr bewegend.
    »Demzufolge handelt es sich bei der erwähnten Nichte also in Wirklichkeit um eine junge Cousine zweiten Grades?«, stellte ich fest.
    Jonathan Tapley rang sichtlich um seine Fassung. »Ja. Angesichts ihres jungen Alters fanden wir es praktischer, sie als eine Nichte auszugeben und uns von ihr Onkel und Tante nennen zu lassen.«
    Es verschleiert auch das Verwandtschaftsverhältnis zu Thomas Tapley, ihrem Vater, dachte ich bei mir. Solange die ganze Welt Flora als deine Nichte kennt, denkt niemand an Tom und die Geschichten, die über ihn erzählt werden.
    »Sie sehen, alles war wunderbar arrangiert …«, sagte Jonathan. »Bis auf eine Sache. Flora wuchs heran und entwickelte sich mehr und mehr zu einer außerordentlich hübschen und charmanten jungen Lady. Wir mussten uns Gedanken um ihre Zukunft machen. Sie war zehn Jahre alt, als meine Frau und ich beschlossen, dafür zu sorgen, dass keine Unbill ihren Schatten auf Floras Zukunft werfen sollte. Mit zehn ist man noch ein Kind, doch die Jahre verfliegen, und schneller, als man denkt, geht sie in die Welt hinaus. Wir hatten die Hoffnung, dass sie einen standesgemäßen jungen Mann finden und eine glückliche Ehe führen würde.« Er verstummte erneut und schien darauf zu warten, dass ich das Problem laut beim Namen nannte, obwohl es offensichtlich schien.
    »Wenn der Name ihres Vaters in Verbindung mit einem Skandal auftauchen oder bekannt werden würde, dass er in gewissen Kreisen verkehrte, und wenn herauskam, dass Flora seine Tochter war, würde das ihre Aussichten auf eine gute Partie vernichten«, führte ich aus. »Familien mit gutem Namen achten auf ihren Ruf. Sie vermeiden jedes öffentliche Aufsehen. Die Tatsache, dass Sie sie als Ihre Nichte ausgaben, hätte als Täuschungsversuch ausgelegt werden können. Eine gute Partie für Miss Flora wäre somit ausgeschlossen gewesen.«
    Abgesehen davon hätte es wohl auch deinen guten Namen in Mitleidenschaft gezogen, überlegte ich bei mir, doch das sagte ich nicht laut.
    »Ganz recht«, pflichtete Tapley mir bei.

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