Ein guter Blick fürs Böse
beisammenhalten . Mein Gegenüber sagte nichts dergleichen, doch sein Blick sprach Bände.
»Die Berichte in den gestrigen Abendzeitungen dürften Ihnen nicht unbekannt sein, Inspector. Möglicherweise sind Sie sogar der Urheber. Berichte, denen zufolge man einen ermordeten Mann in seiner Unterkunft nahe der Waterloo Bridge Station gefunden hat.«
»Durchaus richtig«, gestand ich. »Der Leichnam wurde vorgestern Abend gefunden. Ich habe dafür gesorgt, dass die Nachricht am nächsten Tag in den Nachrichten war. Wir sind nicht sicher, was die Identität des Verstorbenen angeht. Seine Vermieterin weiß nur wenig über ihn. Er hat ihr gegenüber nichts von einer Familie erwähnt. Uns ist niemand aus seiner Verwandtschaft bekannt. Daher konnte er bis jetzt noch nicht von einer nahestehenden Person identifiziert werden. Es wäre möglich, dass er der Vermieterin einen falschen Namen genannt hat. Nicht zu wissen, wer er ist, behindert unsere Ermittlungen.«
Jonathan Tapley hob eine glacé-behandschuhte Hand und unterbrach mich. »Ich möchte den Leichnam sehen. Stellt das ein Problem dar?«
»Nein, Sir, keineswegs. Dürfte ich fragen, aus welchem Grund …?«
»In dem Artikel stand nichts über die Todesursache«, unterbrach er mich erneut. »Doch da es ein Mord war, ist er offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben.«
»Er hat üble Verletzungen im Bereich des Kopfes, Mr. Tapley.«
»Sind die Verletzungen im Gesicht?« Für den Fall, dass unser Besucher unter Umständen ein Verwandter des Toten war, hörte er sich ausgesprochen gelassen an.
»Nein, Mr. Tapley. Die Hiebe haben ihn am Hinterkopf getroffen.«
»Nun denn«, entgegnete mein Gast, indem er sich erhob und seinen Zylinder nahm. »Vielleicht hätten Sie die Güte, mich zur gegenwärtigen Ruhestätte des Leichnams zu geleiten.«
Ich brannte geradezu darauf. Möglicherweise ließ Tapley sich auf dem Weg dorthin herab, mir seine Beweggründe mitzuteilen. Doch wie sagt man so schön? Er ließ sich nicht in die Karten blicken. Wenn ihm der Tote unbekannt war, würde er vermutlich wieder verschwinden, ohne mir eine Erklärung zu liefern. Doch irgendeine geheime Befürchtung hatte ihn hierher getrieben. Ich fragte mich, ob seine Fassade bröckeln würde, wenn er den Toten sah. Doch dem war nicht so. Zumindest äußerlich schien er völlig gefasst.
»Ja«, äußerte er knapp, während sein Blick auf dem wachsbleichen Gesicht ruhte.
»Sir?«
»Was?« Er starrte mich für einen Moment verblüfft an, als wären seine Gedanken davongewandert vor dem traurigen Anblick. »Ja, ich kann ihn identifizieren«, riss er sich sogleich wieder zusammen. »Bei dem verstorbenen Gentleman handelt es sich um meinen Cousin, Thomas Tapley.«
Er sah erneut auf den Leichnam hinunter. »Ist das der Name, den er benutzt hat? Er hat der Vermieterin seinen richtigen Namen genannt?«
»Nachdem Sie uns bestätigt haben, dass es sein richtiger Name war – ja.«
Jonathan Tapley warf einen letzten Blick auf seinen toten Cousin. Dann wandte er sich ab. »Seltsam«, bemerkte er.
Draußen vor der Leichenhalle setzte er seinen Hut auf. »Nun muss ich meiner Familie die traurige Nachricht überbringen, Inspector. Sie werden verstehen, dass dies keine Verzögerung duldet. Vielleicht möchten Sie mich später in meiner Kanzlei in der Gray’s Inn Road aufsuchen? Sagen wir um fünf?«
»Nun ja«, widersprach ich. »Wenn Sie sich vorher einen kurzen Moment Zeit für ein paar Fragen nehmen könnten, die uns weiterhelfen …?«
»Ich bezweifle, dass ich Ihnen weiterhelfen kann, Inspector. Es ist eine ganze Weile her, seit ich meinen Cousin zum letzten Mal gesehen oder sonst wie mit ihm in Kontakt gestanden habe. Mir war nicht bekannt, dass er sich in London aufhielt. Doch ich bin genauso begierig wie Sie zu erfahren, was passiert ist. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis?«
»Natürlich, Sir.« Die Fragen brannten mir auf der Zunge, doch ich hielt mich zurück. Es war sinnlos, ihn zu bedrängen. Er würde reden, wenn er bereit war, und ich hatte dies zu akzeptieren. Ich befürchtete nur, dass er und die restlichen Mitglieder seiner Familie in der Zwischenzeit ihre Aussagen abgleichen könnten.
Er hob seinen Gehstock und schwenkte ihn grüßend zum Abschied. Mir fiel auf, dass der elfenbeinfarbene Knauf die Form eines Totenschädels hatte. Er machte einen ausgesprochen massiven Eindruck.
Jonathan Tapley war geschult darin, die Reaktionen von Zeugen zu lesen. Er verzog das
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