Ein guter Blick fürs Böse
es ihm gerade in den Sinn kam.«
»In seiner Unterkunft, wo er auch starb, hatte er eine recht umfangreiche Bibliothek.«
»Armer Tom«, entgegnete sein Cousin. »Er liebte Bücher, mied allerdings die Themen, die sein langjähriger Hauslehrer ihm antrug. Doch eine Sache hat er aus der Art seiner Erziehung gelernt, Ross, und zwar gründlich. Er fand heraus, wie er mit den zarten Gemütern älterer Frauen umgehen musste. Er gelangte zu der Überzeugung, dass es immer eine weibliche Seele geben würde, die sich um ihn kümmerte. Als er älter wurde, starben die Frauen seiner Kindheit oder verschwanden aus seinem Leben. Seine Mutter starb, als er Ende zwanzig war. Doch er schien stets einen Ersatz zu finden, der ihre Stelle einnahm.«
So wie Mrs. Jameson und vor ihr die Vermieterin aus Southampton, die ihn so wärmstens empfohlen hatte.
Zum ersten Mal, seitdem wir uns begegnet waren, bemerkte ich in Jonathan Tapleys Blick Unbehagen. »Er wurde nach Oxford geschickt, doch er blieb nur für kurze Zeit dort. Er verließ die Universität, wie sagt man gleich, bei Nacht und Nebel. Es gab einen Zwischenfall …« Tapley war jetzt eindeutig gestresst. »Er wurde mit einem weiteren Studenten bei etwas überrascht, das nach dem Gesetz als widernatürliche Handlung gilt und unter Strafe steht. Damals, all dies passierte 1824, wurde man dafür gehängt. Diese furchtbare Strafe wurde inzwischen Gott sei Dank abgeschafft, aber die Tat wird weiterhin mit Zuchthaus bestraft. Deswegen hat sich eine Kultur der Verschwiegenheit um das ganze Thema gebildet. Doch wem erzähle ich das, Sie sind schließlich Polizist.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Damals reagierte man schnell, effizient und vertraulich. Es war im besten Interesse der beiden Familien und der Universität, ganz zu schweigen von den unglückseligen Jungen. Tom war damals gerade achtzehn und völlig von Sinnen angesichts der über ihm schwebenden Gefahr. Doch es war nicht genug, als dass er hernach ein lebenslanges Zölibat gewählt hätte. Es gab weitere Zwischenfälle, die vertuscht wurden. Es schien offensichtlich, dass Frauen in Toms Augen zwar für den häuslichen Komfort sorgten, sich dies jedoch nicht auf ein gemeinsames Schlafzimmer erstreckte. Seine persönliche Vorliebe in dieser Hinsicht galt eindeutig dem eigenen Geschlecht.«
Tapley verstummte. Ich dachte an die Geschichte, die Kohlenhaus-Joey erzählt hatte, und den heimlichen Besucher bei Thomas, während seine Vermieterin außer Haus gewesen war. Hatte es sich womöglich um ein Rendezvous gehandelt? Andererseits, warum sollte Tapley ein solches Risiko auf sich nehmen und einen jungen Liebhaber in seine Wohnung bestellen? Es gab anonymere Orte, wo er sich hätte verabreden können, ohne Angst vor Entdeckung haben zu müssen. Doch wenn körperliches Verlangen den Verstand überrollte, verhielten sich viele Leute töricht.
Ich sah keine Veranlassung, Tapley gegenüber Joeys Geschichte zu wiederholen. Ich hatte noch nicht persönlich mit dem Jungen gesprochen und kannte die Geschichte nur aus Lizzies Erzählungen. Abgesehen davon, wenn man sich auf ein Spiel mit Jonathan Tapley einließ, achtete man besser darauf, sich nicht vorzeitig in die Karten schauen zu lassen.
»Ich verstehe«, sagte ich laut. »Trotzdem hat Ihr Cousin später geheiratet?«
»Ja, seine Erfahrungen in Oxford hatten Tom gelehrt, wie wichtig Diskretion ist. Unsere Gesellschaft zeigt einen hohen Grad an Scheinheiligkeit, Ross. Das wissen Sie sicher selbst. Solange man nicht darüber redet, kümmert sich auch kein anderer darum. Doch die Angst vor Entdeckung und dem öffentlichen Skandal mitsamt rascher Vergeltung ist allgegenwärtig. Ich weiß nicht, wie Sie persönlich zu diesem Thema stehen, Inspector. Doch ich weiß, dass Sie genau wie ich für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen haben. Ich persönlich würde das Gesetz gerne ändern. Doch darauf müssen wir wohl noch lange warten. Tom konnte genauso wenig für seine Natur wie wir anderen für unsere. Doch wie die meisten Menschen mit seiner Neigung war er gezwungen, ein Doppelleben zu führen, ständig in der Angst, sich eines Tages im Steinbruch von Dartmoor wiederzufinden.
Als er älter wurde, wuchs die Versuchung zu heiraten und sich dadurch einen gewissen Schutz zu beschaffen, wie es viele andere Gleichgesinnte vor ihm auch schon getan hatten. Abgesehen davon, dass es die einzige Möglichkeit war, einen Skandal zu verhindern, erreichte er damit, dass eine
Weitere Kostenlose Bücher