Ein guter Blick fürs Böse
irgendetwas erinnert und uns weitere wichtige Informationen liefert. Wir versuchen den schlimmsten Sensationsjournalismus zu vermeiden, sonst würden wir womöglich mit haarsträubenden Geschichten und wilden Behauptungen nur so überschüttet. Wir werden versuchen alles Persönliche und für die Familie Peinliche herauszuhalten. Doch wenn wir wollen, dass die Zeitungen uns helfen, müssen wir ihnen im Gegenzug etwas anbieten. Es ist eine Gratwanderung, Mr. Tapley.«
Er nickte, atmete tief durch und legte die Spitzen seiner langen, schlanken Finger aneinander. »Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Worte nicht übel – doch Sie machen auf mich einen feinsinnigeren Eindruck als die meisten anderen Polizeibeamten. Ich hatte im Verlauf meiner Karriere mit einigen unglaublich phantasielosen Gestalten zu tun – manche davon richtige Schafsköpfe. Offensichtlich gehören Sie nicht in diese Kategorie. Ich bin sicher, Sie werden alles, was ich Ihnen mitteile, vertraulich behandeln.« Er hielt inne. »Haben Sie vor, sich Notizen dazu zu machen?« Er hob fragend die Augenbrauen.
Ich merkte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. »Wenn Sie gestatten, so werde ich ein paar Notizen machen, Sir. Damit ich Sie nicht unnötigerweise noch einmal belästigen muss.«
Ich angelte nach meinem Notizbuch und dem Bleistift und machte mich bereit.
»Nun denn …«, begann er. »Mein Vater war der jüngere von zwei Brüdern. Er wurde Soldat. Sein älterer Bruder ging die Dinge anders an. Er heiratete eine reiche Erbin. Im Jahr 1806 wurde mein Cousin Thomas geboren. Möglicherweise wissen Sie bereits, dass ich 1816 geboren wurde …«
Wieder spürte ich, wie mir die Röte in die Wangen stieg. Ich hoffte, dass es unbemerkt blieb oder dass er es der Hitze des Feuers zuschrieb, während ich darüber sinnierte, dass Tapley all die kleinen mentalen Tricks eines Anwalts beherrschte und dass ich auf der Hut sein musste, um nicht die Kontrolle über das Gespräch zu verlieren. Bisher schien er mir stets einen Schritt voraus zu sein.
»… folglich war Tom volle zehn Jahre älter als ich. Das erklärt, warum wir als Jungen nicht so viel miteinander zu tun hatten. Ich war ein kleiner Schreihals, als er sich bereits einbildete, ein ganzer Kerl zu sein. Als ich zehn Jahre alt war, war Tom draußen in der weiten Welt unterwegs. Seine Kindheit war überschattet vom Tod seines Vaters, meines Onkels, der starb, als Tom sieben Jahre alt war. Danach wurde er von seiner Mutter großgezogen, die sich hingebungsvoll um ihn kümmerte. Er wurde zu Hause unterrichtet, da sie entschieden hatte, dass er zu sensibel war, um eine normale Schule zu besuchen …«
Jonathan Tapley stockte für einen Moment, bevor er hinzufügte, was man für trockenen Humor oder aber auch Verbitterung halten konnte. »Bei mir hat sich niemand Gedanken gemacht, ob ich zu sensibel sein könnte, um fernab von zu Hause mit den Unbilden einer Internatsschule zurechtzukommen!«
»Ich habe mit zehn Jahren in den Kohleminen von Derbyshire gearbeitet.« Ich konnte mir den schroffen Unterton nicht verkneifen.
Endlich hatte ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Er starrte mich überrascht an. »Tatsächlich?« Er musterte mich lange und ausgiebig, bevor er fortfuhr. »Mein Cousin Tapley hatte ein weitaus leichteres Leben als wir beide. Wenn ich mir die Frage erlauben darf, wie sind Sie aus den Kohleminen entkommen und zur Polizei gelangt?«
»Ein großzügiger Wohltäter, ein ortsansässiger Arzt, hat sich meiner und eines weiteren Jungen angenommen. Er hat uns aus den Minen geholt und unsere Ausbildung bezahlt«, klärte ich ihn auf.
»Dann haben Sie es Ihrem Wohltäter mehr als vergolten.«
Bedauerlicherweise hatte Dr. Martin nicht lange genug gelebt, um zu sehen, wie aus seinem Mündel ein Police Inspector geworden war, der sogar seine Tochter geheiratet hatte. Letzteres war vielleicht besser so.
Tapley setzte seine Erzählung fort. »Tom blieb also vorerst zu Hause und hing am Zipfel seiner fürsorglichen Mutter sowie einer Schar von Tanten und anderen alten Frauen. Es gibt ein Porträt von ihm, auf dem man sieht, dass er ein hübscher Knabe gewesen ist. Es fiel ihm nicht schwer, die ganze ihn umgebende Weiberschar zu umgarnen. Er besaß einen wachen Verstand und wäre bei entsprechender Ermutigung ein erstklassiger Gelehrter geworden. Doch wie die Dinge lagen, verkam er zu einem Dilettanten, der sich an Literatur versuchte, an Kunst und an Naturwissenschaften, je nachdem, wie
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