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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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Ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen, und der quälende Hunger lenkte mich von meiner Arbeit ab. Ich überlegte gerade, ob ich Biddle losschicken sollte, um Kalbspasteten zu kaufen, als er aufgeregt in meinem Büro erschien und atemlos verkündete, ein gewisser Mr. Jonathan Tapley wünschte mit mir zu sprechen. Er hielt mir die Karte mit vor Aufregung zitternden Händen hin.
    Tapley! Mein Herz machte einen Sprung. »Schicken Sie ihn rein!«, wies ich Biddle an und erhob mich zur Begrüßung. Ich hätte mir besser einen Moment Zeit genommen, um die kleine weiße Visitenkarte zu lesen, die Biddle mir hinhielt. So wäre ich vorgewarnt gewesen. Doch in der Erwartung, jemanden mit dem Namen Tapley sprechen zu können, unterließ ich es. Ich legte die Karte achtlos auf den Tisch und wartete. Ich war ähnlich aufgeregt wie Biddle, doch ich hoffte, dass man mir das nicht so offenkundig ansah.
    Da ich Thomas Tapley mitunter in der Nachbarschaft begegnet war (und seinen Leichnam aus nächster Nähe gesehen hatte), erwartete ich vermutlich, jemanden mit einer ähnlichen Erscheinung zu sehen, vielleicht sogar einen Doppelgänger. In jedem Fall eine recht kleine und möglicherweise abgerissene Person. Umso überraschter war ich, als ein sehr großer, schlanker und eleganter Gentleman mein Büro betrat, umgeben von einer Aura der Autorität. Er trug einen meisterhaft geschneiderten Gehrock und einen Malakka-Gehstock mit elfenbeinfarbenem Knauf. Er nahm unaufgefordert Platz und legte seinen makellosen Zylinderhut auf meinem Schreibtisch ab. Sein schwarz gelocktes Haar wurde an den Schläfen grau. Ohne Zweifel war er ein attraktiver Mann.
    »Sie sind Inspector Ross?«, erkundigte er sich. Seine Stimme war nicht wirklich laut, doch sie hatte einen eindrucksvollen Klang und füllte die kleine Abstellkammer, die das Yard mir als Büro zugeteilt hatte, völlig aus. Sein Verhalten erweckte den Eindruck, als würde ich ihm Umstände bereiten.
    Irgendetwas lief grundlegend falsch. Hier hatte ich das Sagen, und ich beeilte mich, die Situation zu korrigieren.
    »Ja, der bin ich«, bestätigte ich. »Und Sie sind …« Ich warf einen demonstrativen Blick auf die Karte und las erschrocken vor: »J. G. Tapley Q.C., Rechtsanwalt.«
    Natürlich hatte ich bereits von ihm gehört. Er war Mitglied in zahlreichen altehrwürdigen Kammern. Doch er war darauf spezialisiert, die Angelegenheiten der wohlhabenden Bevölkerung zu vertreten. Er arbeitete nicht als Strafverteidiger, weswegen ich ihm noch nie zuvor persönlich begegnet war. Als Biddle den Besucher angekündigt hatte, hatte ich nicht damit gerechnet, dass es sich um diesen Jonathan Tapley handeln könnte. Die Tatsache, dass ein so berühmter Anwalt höchstpersönlich hier im Yard erschien, ließ die Umstände, die dazu geführt hatten, dass Thomas Tapley als Untermieter im Obergeschoss der Witwe Jameson gelebt hatte, noch geheimnisvoller erscheinen. Vorausgesetzt, dass diese beiden Männer in einer Verbindung zueinander standen. Zumindest schien mein Gast Grund zu der Annahme zu haben, dass es so war. Dennoch wollte mir der Gedanke, dass der Tote in unserem Leichenhaus und dieser angesehene Gentleman hier in meinem bescheidenen Büro miteinander in Verbindung standen, nicht so recht in den Kopf.
    Ich bemühte mich, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. »Ihr Name ist mir wohlbekannt, Mr. Tapley. Ich fühle mich geehrt, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, Sir. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« So weit, so gut. Doch dann platzte es gegen meinen Willen aus mir heraus. »Haben Sie Informationen für uns?«
    Tapley parierte mühelos. »Eigentlich hoffe ich, dass Sie Informationen für mich haben, Inspector.«
    Er legte seine behandschuhten Hände auf den elfenbeinernen Knauf seines Gehstocks und sah mich erwartungsvoll an. Der starre Blick seiner dunklen Augen erinnerte mich an meinen alten Schullehrer. Ich fühlte mich auf unangenehme Weise in meine Kindheit zurückversetzt, wo ich als Zwölfjähriger beschuldigt wurde, mich mit meinen Schulkameraden geprügelt zu haben. Eilig setzte ich mich wieder. »Vielleicht teilen Sie mir zunächst einmal mit, was Sie zu uns führt, Mr. Tapley.«
    Falsch, Ross, du dummer Junge! Denk daran, dass du durch einen Akt der Wohltätigkeit hierhergekommen bist. Wenn du nicht möchtest, dass der gute Ruf dieser alten und angesehenen Schule leidet, und du deinem Wohltäter keine Schande machen willst, solltest du zumindest deine Sinne

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