Ein guter Blick fürs Böse
er noch am Leben. Jedoch, und das ist das Erschütternde daran, war es von Anfang an nur ein bescheidenes Einkommen gewesen. Er hat all die Jahre sicher nicht sehr komfortabel gelebt. Ich bin sicher, er wollte Flora so viel wie möglich von seinem Vermögen hinterlassen. Der arme Kerl hat sich in jeder Hinsicht eingeschränkt.«
»Er machte in der Tat einen heruntergekommenen Eindruck«, stimmte ich ihm zu. »Seine Kleidung war abgetragen. Die Kommode in seiner Wohnung enthielt nur eine Garnitur Wäsche. Er besaß lediglich einen Gehrock. Wenn er für etwas Geld ausgab, dann für gebrauchte Bücher.«
Jonathan schloss die Augen. »Der arme Kerl«, murmelte er erneut. »Er war so ein liebenswürdiger, gutmütiger Mensch, und doch wurde er von seinem eigenen Land verfolgt.«
Das war nicht der Augenblick, um über das Gesetz in Bezug auf Homosexualität zu diskutieren. Jonathan hatte Recht mit seiner Aussage, dass wir beide verpflichtet waren, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, so wie sie waren.
Jonathan lehnte sich zurück, als wappnete er sich innerlich. »Dann erfuhr ich etwas, das mich zutiefst schockierte. Nachdem ich keine Nachricht aus Frankreich bekam, kontaktierte ich die Sozietät in Harrogate, die mit der Verwaltung von Toms Geschäften betraut war und immer noch ist. Ich erfuhr, dass Tom zu Beginn des letzten Jahres dort war, im Januar, persönlich! Er war nach England zurückgekehrt! Sie können sich meine Reaktion vorstellen, meine Benommenheit! Dem Büro hatte er mitgeteilt, dass er derzeit noch über keine reguläre Adresse verfüge und sie unverzüglich informieren würde, sobald sich dies änderte. Sie warten immer noch auf seine Nachricht. Sie hatten angenommen, ich wüsste, wo er zur Zeit lebt. Offensichtlich hatten wir ihn schon wieder verloren.«
Das merkwürdige Verschwinden von Thomas Tapley warf Fragen auf. Was war der Grund für sein Verhalten? Fürchtete er womöglich die Missbilligung seines Cousins Jonathan, wenn dieser herausfand, dass Thomas wieder in England war und somit die neun Jahre zuvor getroffene Vereinbarung gebrochen hatte? Er konnte schließlich nicht wissen, dass Jonathan auf der Suche nach ihm war und dass seine Tochter Flora beabsichtigte sich zu verloben. Doch selbst als er bei Mrs. Hampton in Southampton ausgezogen war, um sich in London bei Mrs. Jameson einzumieten, hatte er seinen Anwalt nicht informiert – oder seinen Cousin, der am anderen Ende der Stadt in der vornehmen Gegend von Bryanston Square lebte. Auch hatte Thomas Tapley die Witwe Jameson getäuscht, indem er angab, dass er nach London zurückkehren wollte, weil er früher hier gelebt hatte. Tatsächlich hatte er im Norden gelebt, bevor er das Land in Richtung Kontinent verlassen hatte. In Wirklichkeit hatte er hierher zurückkehren wollen, weil er hier eine Tochter hatte. Hatte er vorgehabt, ihr einen Besuch abzustatten, und dann den Mut verloren?
»Mr. Tapley«, sagte ich forsch. »Soweit ich es verstanden habe, waren Sie mit ihrem Cousin in schriftlichem Kontakt, während er sich außer Landes aufhielt.«
Für einen Moment blickte Jonathan unbehaglich. »Nicht regelmäßig, wie ich gestehen muss. Vielleicht einmal im Jahr, um ihn wissen zu lassen, dass es Flora gut ging und alles beim Alten war. Er hat selten geantwortet.«
»Das ist regelmäßig genug. Es gibt Leute in unserem Land, die noch weniger Kontakt zu ihren Verwandten haben. Haben sie ihn jemals persönlich in Europa besucht? Wann wurde er zuletzt in Frankreich, Italien oder einem anderen Land gesichtet, bevor er hierher zurückkehrte? Das ist von großer Bedeutung, da es uns helfen würde, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem er vermutlich zurückgekehrt ist. War es, kurz bevor er im Januar seine Anwälte in Harrogate aufsuchte? Es stellt sich noch eine andere Frage. Hatte er seine persönlichen Dokumente mit ins Ausland genommen, seine Geschäfte betreffend, oder zum Beispiel eine Abschrift seines Testaments? In seiner Unterkunft wurde nichts dergleichen gefunden.«
»Das ist schnell beantwortet. Er muss einige persönliche Dokumente bei sich geführt haben, doch die meisten sind bei der Firma Newman und Thorpe in Harrogate in Verwahrung, dem besagten Anwaltsbüro. Sie nehmen seit etlichen Jahren die Interessen meines Cousins wahr, und das ist ein kluger Entschluss für einen Mann, der ein Leben auf Wanderschaft führt, ständig in Hotels und Pensionen wohnt. Ich schlage vor, Sie setzen sich mit Newman und Thorpe in
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