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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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»Obwohl ich mich entschieden gegen Ihre Andeutung verwahre, wir hätten Flora als unsere Nichte ›ausgeben‹ wollen. Wir hatten zu keiner Zeit vor, jemanden zu täuschen. Das war nicht unsere Absicht. Damals schien es normal, dass sie mich Onkel nannte. Sie war ein Kleinkind, als sie zu uns kam.
    Ich wusste, dass meinem Cousin das Wohlergehen seines Kindes am Herzen lag, obwohl er die kleine Flora kaum gesehen hatte, seit sie ihre Mutter verloren hatte und zu uns gekommen war. Bisweilen besuchte er sie und brachte ein kostspieliges Geschenk mit. Ich glaube, die Besuche waren recht schwierig für ihn. Doch er wollte, dass sie glücklich war.
    Eines Tages nahm ich ihn beiseite und machte ihm einen Vorschlag. Er sollte seine Angelegenheiten regeln und Flora in einem Testament als Erbin einsetzen sowie mich als ihren Vormund. Dann sollte er ins Ausland gehen und nicht wieder zurückkehren. Wo und wie er leben würde, war ihm freigestellt. Doch er musste außerhalb Englands bleiben.«
    »Ein ausgehaltener Exilant …«, murmelte ich. Das passte.
    »Genau genommen nicht, denn ich habe ihn nicht dafür bezahlt, dass er sich fernhielt«, korrigierte mich Tapley. »Tom war selbst ein wohlhabender Mann. Er konnte bei einer Bank Geld abheben, wo auch immer er sich aufhielt. Er verfügte über Einkommen aus seinen Kapitalanlagen und Mieten. Er stimmte mir zu, dass es das Beste für Flora wäre. Nebenbei machte es vermutlich auch ihm das Leben ein Stück weit leichter. In Europa, Inspector, sind die Gesetze in Bezug auf Toms Neigung ganz allgemein milder als hier. In Frankreich zum Beispiel ist der Vorfall, der Tom als Student beinahe an den Galgen gebracht hätte, seit Ende des letzten Jahrhunderts nicht mehr strafbar.
    Mein Cousin stimmte also bereitwillig zu. Er reiste ab, nachdem alles Nötige in die Wege geleitet worden war. Gelegentlich hörte ich von ihm, jedoch nicht besonders häufig. Für eine Weile lebte er in Italien, dann in Südfrankreich. Dann hörte ich eine Weile gar nichts mehr. Ich überlegte, ob ich Erkundigungen einziehen sollte, als die Sache dringend wurde. Flora ist vergangenen Herbst neunzehn Jahre alt geworden. Ein höchst vorteilhafter junger Mann aus den höchsten Kreisen hat um ihre Hand angehalten. Flora hat sich verliebt. Die Familie des jungen Mannes ist einverstanden. Natürlich ist sie noch sehr jung, doch meine Frau und ich sind sicher, dass die Zuneigung aufrichtig ist. Selbstverständlich kam der junge Bursche zuerst zu mir und bat mich um die Erlaubnis, ihr einen Antrag machen zu dürfen …«
    »Und Sie mussten ihm mitteilen, dass Floras leiblicher Vater noch lebt und man zunächst seine Einwilligung einholen müsse, da Flora noch keine einundzwanzig Jahre alt ist«, unterbrach ich ihn.
    Er nickte. »Ja. Von diesem Moment an wurden die Dinge kompliziert. Ich schrieb an die letzte mir bekannte Adresse in Frankreich, weil ich dachte, dass Thomas sich noch dort aufhielt. Ich erklärte ihm die Umstände und versicherte ihm, dass die Absichten des jungen Mannes ehrenwerter Natur seien. Ich bat ihn um Antwort und Erteilung der Einwilligung, die er bei einem Notar beglaubigen lassen sollte. Es wäre nicht notwendig, dass er nach Hause käme.
    Der Brief kam ungeöffnet zurück. Ich schrieb weitere Briefe, ohne eine Antwort zu erhalten. Verzweifelt, wie ich war, schrieb ich an unsere Botschaft in Paris. Schließlich erhielt ich von dort die Information, dass Tom zuletzt in einem Vorort der französischen Hauptstadt gelebt hätte, doch dort wäre er nicht länger gemeldet. Der Botschaft war nichts über seinen neuen Wohnort bekannt. Es gab keine Meldungen über einen britischen Toten dieses Namens in Frankreich. Wir nahmen daher an, dass er noch lebte. Doch der Kontinent ist voll mit umherreisenden Engländern. Möglicherweise war er nach Italien zurückgekehrt oder hatte sich entschlossen, die Schweizer Alpen zu besichtigen, oder er war einem Impuls folgend aufgebrochen, um das Österreichische Imperium zu erforschen oder das Osmanische Reich. Kurz gesagt, er hätte überall sein können.«
    Tapley zog ein Taschentuch aus feinem Batist hervor und wischte sich über die Stirn. »Ich teilte dem jungen Paar mit, dass es in jedem Falle bis zu Floras zwanzigstem Geburtstag warten müsste, bevor eine Hochzeit stattfinden könnte. Das verschaffte mir ein wenig Zeit. Zunächst stellte ich hier Nachforschungen an und fand heraus, dass Tom weiterhin ein Einkommen aus seinen Kapitalanlagen bezog, somit war

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