Ein guter Blick fürs Böse
eingeschlagen hat?«
»Man könnte argumentieren, dass er ein Motiv hatte. Er und seine Frau betrachten die junge Flora als ihr eigenes Kind. Sie steht im Begriff, eine äußerst vorteilhafte Ehe einzugehen … mit dem jüngeren Sohn eines Lords. Es ist der Gipfel all dessen, was sie sich für Flora wünschen können.«
Dunn räusperte sich missbilligend, doch ich ignorierte ihn und fuhr fort.
»Er hatte seinen Cousin um dessen schriftliche Einwilligung zur Hochzeit gebeten. Er wollte nicht, dass er hier auftauchte, um sein Recht als Vater einzufordern und die Braut zum Altar zu führen.«
Dunn räusperte sich erneut und zeigte mit dem Finger auf mich.
»Wir müssen den Schuldigen so schnell wie möglich finden, Ross. Je länger sich die Sache hinzieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Presse Wind von der Geschichte bekommt. Denken Sie nur mal an die Akteure in diesem Drama! Eine wunderschöne, unberührte junge Frau – ich unterstelle, dass Flora Tapley beides ist –, die im Begriff steht zu heiraten. Der Sohn eines Angehörigen des Hochadels. Ein angesehener Anwalt. Eine geheimnisvolle Französin mit zweifelhaftem Hintergrund, die zusammen mit dem Opfer in einem Vergnügungsbad am Strand gesehen wurde. Menschenskind, Ross, dieser Fall hat alles, was es zu einem billigen Groschenroman braucht!«
KAPITEL ACHT
Elisabeth Martin Ross
»Wenn du mich fragst, haben er und seine Frau sich äußerst selbstsüchtig, ja geradezu grausam verhalten«, sagte ich an diesem Abend zu Ben, als er mir in kurzen Worten von seinem Gespräch mit Jonathan Tapley berichtet hatte. »Genau genommen hat er seinen Cousin ins Exil getrieben, so dass er weiterhin die Vormundschaft über die kleine Flora behalten konnte. Wie konnte er es überhaupt wagen, seinen Cousin später anzuschreiben und um eine schriftliche Einwilligung zur Hochzeit nachzufragen, die zudem auch noch notariell beglaubigt sein sollte … und dem armen Mann zugleich zu verbieten, nach Hause zu reisen, um persönlich seine Einwilligung zu geben und zu sehen, wie seine Tochter heiratet?«
Ich war empört über die Ungerechtigkeit, die man dem armen Thomas hatte zuteilwerden lassen, und fuhr energisch fort: »Wäre es wirklich ein Skandal gewesen, wenn Thomas aufgetaucht wäre? Niemand hätte sich an ein Ereignis erinnert, das vor vierzig Jahren in Oxford stattgefunden hatte, oder an irgendwelche Gerüchte bezüglich seiner Neigung zwischen diesem Vorfall und dem Zeitpunkt seiner Abreise. Er war fast zehn Jahre fort!«
»Jonathan und Maria Tapley waren diesbezüglich nicht so sicher«, entgegnete Ben nachsichtig.
Doch davon wollte ich nichts hören. »Es überrascht mich nicht, dass Thomas still und heimlich nach Hause zurückgekehrt ist, ohne seinen Cousin zu informieren. Er wollte seine Tochter sehen, das ist doch verständlich! Ich weiß genau, wäre er mein Vater gewesen –«
»Er war aber nicht dein Vater«, unterbrach mich Ben schroff. »Als dein Vater plötzlich zum Witwer mit einem kleinen Kind wurde, hat er es auf sich genommen, dich alleine großzuziehen. Thomas hatte nichts Eiligeres zu tun, als seine Tochter seinem Cousin zu überlassen. Andererseits kann man es ihm nicht verdenken. Vergiss nicht, in welch schwieriger Situation er sich befand. Es mag ja sein, dass Dr. Martins Tochter bestens informiert und tolerant ist, was das Thema Sex angeht, doch die meisten der hübschen jungen Mädchen werden in beklagenswerter Unwissenheit großgezogen. Stell dir vor, Thomas Tapley wäre in einen weiteren Skandal verwickelt worden. Wer hätte es der jungen Flora beibringen sollen? Thomas wusste, dass es besser war, außer Landes zu gehen. Und sei dir nicht allzu sicher, was seine Motive angeht, nach Hause zurückzukehren. Wenn er seine Tochter so dringend sehen wollte, warum hat er dann erst bei Mrs. Holland in Southampton ein Quartier bezogen und ist dann Untermieter bei Mrs. Jameson geworden, alles ohne Jonathan zu informieren? Oder den Versuch zu unternehmen, seine Tochter zu sehen?«
»Vielleicht hat er den Mut verloren?«, schlug ich vor. »Der arme Mann, das Mädchen weiß noch nicht einmal, wie er aussieht – aussah –, nehme ich zumindest an. Vielleicht wollte Thomas auch nur seine Einwilligung hinauszögern?«
Ben bedachte mich mit einem triumphierenden Blick. »Du übersiehst einen wichtigen Punkt, Lizzie. Thomas wusste nicht , dass Flora verlobt war und heiraten wollte. Jonathan hat den Brief mit diesen Neuigkeiten an die zuletzt
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