Ein guter Blick fürs Böse
tippte sich an die Hutkrempe und schnalzte Nelson zu. Das Pferd setzte sich in Bewegung, und die Droschke entfernte sich rumpelnd.
Inspector Benjamin Ross
Dunns Worte hatten mich momentan jeglicher Fähigkeit zur Sprache beraubt. Die Person in der Husarenjacke schien unbeeindruckt. Sie nickte gnädig in meine Richtung in Kenntnisnahme unserer Vorstellung und sagte auf Englisch: »Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Inspector Ross. Sie sind also der Beamte, der mit der Suche nach dem Halunken beauftragt wurde, der meinen armen Ehemann ermordet hat.«
Zwei Dinge fielen mir sofort ins Auge. Erstens, dass die Lady ein ganz ausgezeichnetes Englisch sprach, gefärbt in einem attraktiven Akzent, und das mit einer dunklen, rauchigen Stimme. Hatte Jenkins etwa gelogen, als er Lizzie erzählt hatte, seine weibliche Klientin wäre des Englischen nicht besonders mächtig? Oder war es eine Finte gewesen, um seine Anwesenheit als Dolmetscher bei einer eventuellen Befragung sicherzustellen? Oder hatte er tatsächlich nicht gewusst, dass sie die Sprache beherrschte? Ich zweifelte keinen Moment daran, dass wir es hier mit seiner ominösen weiblichen Klientin zu tun hatten, selbst ohne die Beschreibung des auffälligen Hutes.
Das Zweite, was mir auffiel, war die offensichtliche Selbstbeherrschung der fremden Lady. Sie zeigte jedenfalls keine übermäßige Trauer. Im Gegenteil, sie zeigte überhaupt keine. Vielleicht war sie eine Person mit außergewöhnlicher Kontrolle über ihre Emotionen. Oder vielleicht war sie einfach zu gerissen, um vorzutäuschen, was sie nicht empfand. Konnte sie wirklich die Witwe von Thomas Tapley sein, dem erst vor so kurzer Zeit Verschiedenen, dessen sterbliche Hülle noch nicht begraben war? Der Leichnam von Thomas war auf Bitten von Jonathan Tapley zu einem Beerdigungsunternehmer gebracht worden. Dort lag er nun in einem kostspieligen Sarg und wartete auf das weitere Vorgehen.
Entweder sie konnte Gedanken lesen oder aber zumindest meine . In ihrem Gesicht rührte sich nicht ein einziger Muskel, doch in ihren dunklen Augen flackerte Begreifen auf, während sie mich beobachtete.
»Superintendent Dunn hat meine Heiratsurkunde gesehen«, sagte sie. »Thomas und ich haben in Montmartre geheiratet, vor mehr als drei Jahren. Montmartre ist eine kleine Gemeinde am Rand von Paris, ein sehr beliebter Ort bei den Parisern, die sich dort gerne aufhalten und die Umgebung genießen. Wir haben zahlreiche Restaurants, Musiklokale, Ballsäle und im Sommer Freiluft-Tanzveranstaltungen. Die Atmosphäre ist unkonventionell. Es gibt außerdem eine Reihe kleiner Hotels. In Montmartre stellt niemand Fragen …«
Ihre beherrschte Maske verrutschte für einen kurzen Moment, und sie ließ sich zu einem koketten Lächeln verleiten. Schon eine Sekunde später erkannte sie, dass es unter den gegebenen Umständen unangemessen war, und sie fuhr nüchtern und kontrolliert fort. »Ich habe für einige Jahre eine respektable Herberge in Montmartre betrieben. Thomas kam vor fast vier Jahren zu mir, zuerst als zahlender Gast und später als mein Ehemann.«
Dunn hielt wie zur Bestätigung ein offiziell aussehendes Dokument in meine Richtung, das bisher auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. Er sah mir kaum in die Augen.
»Ich habe Superintendent Dunn gesagt, dass ich keinerlei Einwände dagegen habe, wenn er meine Heiratsurkunde vorläufig behält, um sich zu überzeugen, dass unsere Ehe ordentlich registriert ist. Aber Sie werden darauf aufpassen, Superintendent?«, wandte sie sich an Dunn. »Ich brauche sie unbedingt zurück.«
»Selbstverständlich, Madame «, antwortete Dunn schroff und ließ die Urkunde zurück auf seinen Schreibtisch fallen.
Mir dämmerte, dass er sich genauso überfahren fühlte wie ich.
»Sie sprechen ein ausgezeichnetes Englisch, Madame «, sagte ich, indem ich die gleiche Anrede benutzte wie zuvor Dunn.
Erneut dieses elegante Kopfnicken. »Danke sehr.«
Doch sie lieferte keinerlei Erklärung, wo sie die Sprache gelernt hatte! Sie war eine sehr schlaue Person. Sie legte ihre Karten eine nach der anderen und mit großem Bedacht auf den Tisch. Wenn ich Informationen von ihr wollte, musste ich sie ihr entlocken. Ich fing mit dem Offensichtlichen an.
»Darf ich fragen, ob Sie Gelegenheit hatten, den Leichnam Ihres verstorbenen Mannes ein letztes Mal zu sehen? Falls nicht, lässt sich das selbstverständlich einrichten.«
»Ich komme soeben vom Bestatter, Inspector. Ich musste mich mit
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