Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
Vom Netzwerk:
eigenen Augen überzeugen, dass es in der Tat mein armer Thomas ist, bevor ich herkam, um Sie zu sehen.«
    Sie hatte den Leichnam gesehen – und dennoch nicht eine einzige Träne?
    »Mrs. Tapley hat eine Erklärung unterzeichnet, dass es sich bei dem Toten um ihren Ehemann handelt«, sagte Dunn hölzern.
    »Mr. Thomas Tapley ist vor einem Jahr alleine in dieses Land zurückgekehrt«, begann ich vorsichtig in dem Versuch, meine Befragung fortzuführen. »Es scheint eine ganze Weile her zu sein, dass Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben, und damals war er am Leben. Mein herzliches Beileid, Madame.« (Nicht, dass sie eine Spur von Trauer gezeigt hätte.) »Leider muss ich Sie dennoch nach den Umständen fragen, unter denen Sie sich getrennt haben. Gab es eine Entfremdung? Waren Sie vielleicht übereingekommen, sich zu …«
    »Wo denken Sie hin!«, unterbrach sie mich empört. »Das war ganz und gar nicht der Fall! Es stimmt, dass er Anfang letzten Jahres verschwand. Seit damals habe ich verzweifelt nach ihm gesucht, Inspector. Leider, wie ich gestehen muss, nur in Frankreich.«
    Dunns Gesichtszüge zuckten verräterisch, doch er sagte nichts und überließ es mir allein, mich mit ihr abzuquälen.
    »In Frankreich? Sie hielten es nicht für möglich, dass er nach England gegangen sein könnte? Immerhin ist er gebürtiger Engländer …«
    »Aber einer, der seit vielen, vielen Jahren aus England fortgegangen war, um in Frankreich zu leben! Der mit mir zusammen unter einem Dach gelebt hat. Er hat nie davon gesprochen, wegzugehen oder mich zu verlassen, und er hatte nicht den geringsten Grund dazu!«
    Wieder hatte sie mich unterbrochen, doch vielleicht blickte ich unbeeindruckt drein. Wie dem auch sei, sie brach ab und seufzte.
    »Es muss Ihnen eigenartig erscheinen«, fuhr sie nach einigen Sekunden fort. »Lassen Sie mich erklären, wie alles anfing. Sie müssen wissen, dass Thomas im vorletzten Jahr sehr krank war. Ich habe ihn gesund gepflegt. Leider war er ein veränderter Mensch, als er wieder gesund war. Vor seiner Krankheit war er ein friedfertiger gut gelaunter Mann gewesen. Wir führten ein zufriedenes Leben, wir beide. Aber nach seiner Krankheit war er ganz anders, aufbrausend, misstrauisch, leicht zu verärgern … Er war oft mit den Gedanken woanders. Ich habe mit dem Arzt darüber gesprochen. Er hat mir gesagt, dass lange Krankheiten mit ausgedehntem Fieber manchmal zu derartigen Ergebnissen führen, insbesondere, wenn der Kranke schon älter ist. Er kann Erinnerungen verlieren. Sein Gedächtnis kann ihm Streiche spielen, Episoden erfinden. So war es auch bei meinem Ehemann. Er begann, sich … Dinge einzubilden. Auch das war nicht ungewöhnlich, sagte der Arzt. Ich habe alles versucht, wieder den alten Menschen aus ihm zu machen, was seine Gesundheit und seinen Verstand angeht. Ich konnte ihn sogar überreden, ans Meer zu fahren, in der Hoffnung, dass eine Luftveränderung helfen würde. Wir fuhren nach Deauville. Doch nach unserer Rückkehr nach Paris wurde sein Zustand noch schlimmer.
    Dann eines Tages verschwand er ohne Vorwarnung. Ich kam nach Hause und stellte fest, dass er nicht mehr da war. Er hatte seine Reisetruhe gepackt und mitgenommen. Ich fand einen Fuhrmann, der ihn von Montmartre bis ins Zentrum von Paris mitgenommen hatte. Der Mann hatte frisches Gemüse an Les Halles geliefert, die Markthallen von Paris. Er hatte Thomas und seine Truhe an einem Droschkenstand ganz in der Nähe abgesetzt. Ich eilte zu diesem Stand, doch …«
    Sie zuckte elegant die Schultern. »Wahrscheinlich kennen Sie die Gegend von Les Halles nicht. Man nennt sie auch den Bauch von Paris. Es gibt unendlich viele Menschen, unendlich viele Waren aller Art von überall aus Frankreich, so viele Geschäfte, alles rennt durcheinander, und über allem liegt ein unglaublicher Lärm. Berge leerer Kisten und Schachteln warten auf ihren Abtransport, und ständig werden neue angeliefert. Die Droschken vom Stand nebenan sind ununterbrochen im Einsatz. Eine Kutsche kommt mit einem Fahrgast an, und beinahe im gleichen Augenblick steigt ein neuer Fahrgast ein, und es geht weiter. Die armen Pferde sind ständig todmüde. Meine Frage nach einem Mann mit einer Reisetruhe brachte mir nichts als Gelächter ein. Die Kutscher sehen Dutzende davon, jeden Tag. Niemand konnte sich an Thomas erinnern. Niemand hatte Zeit, mit mir zu reden. Niemand scherte sich um meine Sorgen. Ich kehrte nach Montmartre zurück. Ich war zutiefst

Weitere Kostenlose Bücher