Ein guter Blick fürs Böse
verzweifelt.«
»Sie sind nicht auf den Gedanken gekommen, er könnte nach England zurückgekehrt sein?«, beharrte ich.
»Zuerst nicht, nein.« Sie schüttelte den Kopf, was meinen Blick wieder auf den Hut mit den lavendelfarbenen Seidenblüten lenkte. »Warum sollte ich so etwas denken? Thomas hat mir stets erzählt, er hätte England ein für alle Mal hinter sich gelassen. Er nannte es ›den Staub von den Schuhen schütteln‹. Sagt man das nicht so?«
»Das ist richtig«, antworteten Dunn und ich unisono. Wir wechselten verstohlene Blicke.
»Ich befürchtete«, fuhr unsere Besucherin fort, »dass Thomas in seinem verwirrten Zustand ziellos durch Frankreich irren könnte. Dass er möglicherweise seinen Namen vergessen hatte! Jetzt erfahre ich, dass er ihn zwar noch wusste, sich aber offensichtlich nicht mehr an unser Heim in Montmartre erinnern konnte. Die französische Polizei war nicht sehr hilfreich, wie ich leider sagen muss. Ich gab Suchanzeigen in Provinzzeitungen auf, in denen ich um Informationen bat – ohne Erfolg. Schließlich fing ich in meiner Verzweiflung an, mich zu fragen, ob er am Ende nicht doch nach England zurückgekehrt war und ob ich in dieses Land fahren musste, um nach ihm zu suchen. Allerdings …«, sie breitete die Hände in einer sehr fremdländischen Geste aus. »Ihm hierher zu folgen und nach ihm zu suchen hätte viel Geld gekostet, das ich damals noch nicht hatte. Ich musste erst eine ganze Weile sparen, und erst gegen Ende letzten Jahres, Ende Oktober, hatte ich genug zusammen, um die Reise anzutreten und hier in England zu bleiben, um nach Thomas zu suchen. Und alles nur, um zu erfahren, dass ich zwischenzeitlich zur Witwe wurde.« Sie schlug untröstlich die Augen nieder.
»Einmal mehr mein herzliches Beileid«, sagte ich. »Darf ich fragen, von wem Sie erfahren haben, dass Ihr Mann tot ist?«
Sie hob den Blick und sah mich aus ihren dunklen Augen direkt an. »Thomas hatte mir gegenüber einen Cousin erwähnt, Jonathan Tapley, der in London wohnt. Ich wollte zuerst eigentlich gar nicht mit ihm in Verbindung treten, weil es offensichtlich Streit zwischen den beiden gegeben hatte. Bis gestern, als ich ihm eine Karte schickte, in der ich ihm erklärte, wer ich bin. Ich war inzwischen ziemlich verzweifelt, wissen Sie? Ich hatte immer noch keine Spur von Thomas gefunden. Heute Morgen erhielt ich eine Antwort, in der ich gebeten wurde, mich bei einer Adresse in der Gray’s Inn Road zu melden. In einer Anwaltskanzlei, wie es hier wohl heißt. Jonathan Tapley ist Anwalt – ein avocat , wie man in Frankreich sagt – und hat in diesem Gebäude sein Büro. Also begab ich mich am frühen Morgen zur angegebenen Adresse, und dort überbrachte man mir die tragische Neuigkeit. Der arme Thomas ist tot, und schlimmer noch, er wurde ermordet!«
Nun nahm sie ein Taschentuch hervor und betupfte sich die Augen. »Ich kann jetzt nicht mehr darüber sprechen, Messieurs . Ich bin zu erschüttert.«
»Das kann ich sehr gut verstehen«, sagte ich mitfühlend. »Sind Sie ganz allein in London, Madame? «
»Allerdings. Ganz allein«, antwortete sie trauervoll. Sie erhob sich von ihrem Stuhl. »Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen, Messieurs . Sie haben meine Adresse, Superintendent. Es ist ein kleines, wenig kostspieliges Hotel, wie Sie sicher verstehen werden. Ich werde dort bleiben, und Sie können mich leicht finden – oder eine Nachricht senden, und ich komme hierher.«
Bevor Dunn oder ich wussten, was geschah, war sie auf dem Weg zur Tür. Ich konnte nichts anderes mehr tun, als ihr selbige aufzuhalten und einen Constable zu rufen, der sie nach unten auf die Straße begleitete.
»Nun, Ross?«, fragte Dunn, als wir wieder allein waren. »Was halten Sie von alledem?«
»Sie wird sich wieder melden«, sagte ich. »Wir haben ihre Heiratsurkunde, und ich bezweifle nicht eine Minute, dass ihre Ehe korrekt eingetragen ist. Die Urkunde ist echt, und sie wird sie zurückverlangen.«
»Aber ist sie echt?«, fragte Dunn und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an.
»Wer weiß? Ich bin jedenfalls sicher, dass wir es hier mit einer äußerst schlauen Frau zu tun haben, Sir«, sagte ich rundheraus.
»Ah, das ist allerdings richtig. Und eine äußerst attraktive Person obendrein.« Dunn richtete seine verschlagenen kleinen Augen auf mich. »Aber halten Sie sie auch für imstande, einen Mord zu begegen?«
Ich konnte nur schief grinsen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn Sie die Fähigkeit in
Weitere Kostenlose Bücher