Ein guter Mann: Roman (German Edition)
bequeme Schuhe. Er war der Mann, der alles sein konnte. Vielleicht besuchte er einen Freund, vielleicht war er ein Netzwerktechniker, vielleicht ein harmlos neugieriger Tourist, vielleicht ein Arzneimittelvertreter.
Zum ständigen Entzücken seines Chefs Peter Krause war dieser Müller alles und zugleich nichts. Selbst sein Alter – er war siebenunddreißig – verschwamm bei seinem Anblick. Es gab Menschen, die ihn zehn Jahre älter schätzten, und sehr viele schätzten ihn zehn Jahre jünger, vor allem dann, wenn sie ihn beim Sport sahen, wie er sich bewegte, wie er dahinglitt und mühelos bedauernswerte Sparringspartner auf den Boden warf. Nur sehr wenige, zumeist Kollegen mit geschärftem Blick, kamen auf sein wirkliches Alter.
»Das Bestechendste an ihm ist«, hatte Krause einmal geäußert, »dass er kein Held ist, weil er absolut keiner sein will.«
Die Maschine war nicht sehr voll. Müller suchte sich einen Fensterplatz auf der linken Seite, weil man von dort beim Einschweben über Damaskus sehen konnte, wie die Stadt ihre Lichter anzündete.
Dann stand plötzlich eine sehr europäisch aussehende alte Dame an seiner Reihe und fragte in akzentfreiem Englisch: »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Aber ja«, antwortete Müller freundlich. »Wollen Sie hier ans Fenster?«
»Oh nein, bitte nicht ans Fenster, aber gleich neben Sie. Ich habe nämlich Flugangst, wissen Sie, und manchmal brauche ich jemanden, an dem ich mich festkrallen kann, wenn der Pilot so wahnsinnige Kurven macht.«
Müller grinste breit und sagte gutmütig: »Dann krallen Sie mal.« Er war nicht undankbar für die Ablenkung. In seiner Rolle als Handelsvertreter konnte er ganz entspannt sein.
Er musterte seine Nachbarin unauffällig. Sie war klein und rundlich und hatte ihr Haar mit einem lichten Blauschimmer versehen lassen. Ihre Kleidung war grau und zurückhaltend, aber teuer.
Sie murmelte auf Deutsch: »Was tut man nicht alles für die Kinder!«
»Da sagen Sie was«, nickte Müller, jetzt ebenfalls auf Deutsch. »Besuchen Sie Ihre Kinder?«
»Eine Tochter«, sagte sie. »Eine von vieren. Aber sie war immer schon die schwierigste, um die Wahrheit zu sagen.«
»Was ist eine schwierige Tochter?«, fragte Müller. »Ich habe nämlich auch eine.«
»Eine schwierige Tochter ist eine Tochter, die erst einen Mann aus Ghana anschleppt, dann einen jungen Arzt aus Singapur, dann einen Mathematikstudenten aus St. Petersburg und schlussendlich einen Teppichhändler aus Damaskus. Aber den tauschte sie dann doch noch gegen einen Studierten. Sie wollte natürlich alle heiraten, und ich habe gezittert, sage ich Ihnen, dass sie ein Kind kriegt, egal von wem. Das, junger Mann, ist eine schwierige Tochter. Wobei ich Ihnen die sechs oder acht Kerle, die zwischendrin in meinem Haus auftauchten, verschwiegen habe.«
»Und den Studierten aus Damaskus hat sie geheiratet?« Ein Lehrer hatte einmal formuliert: Probieren Sie vor der Ankunft Ihre Maske aus. Sie muss nahtlos passen.
»Oh nein, so einfach geht es bei ihr nicht. Sie sagt, sie will ihm nur nahe sein für den Fall, dass er heiraten will. Aber ich habe einen ganz anderen Verdacht.« Sie sah ihn von der Seite an und entschied: »Na ja, Sie sind alt genug, damit umzugehen. Ich denke, dass er sie sich als Geliebte hält – bis irgendein dummes Ding auftaucht, das er heiraten muss, weil seine Sippe das beschlossen hat. Ich habe gehört, die Syrer sind in diesen Dingen schrecklich unkultiviert.«
»Das könnte stimmen«, kommentierte Müller trocken. »Was hat der Kerl für einen Beruf?«
»Denken Sie nur«, sagte sie mit runden, naiv schimmernden Augen, »der Kerl ist tatsächlich ein Agrarwissenschaftler, ein leibhaftiger Doktor. Und er arbeitet sogar für den Staat, wird aber natürlich lausig bezahlt.«
»Na, so was!«, erwiderte Müller.
Dann rollte die Maschine an, und er hielt der Dame seine rechte Hand hin. Sie legte ihre Linke hinein und strahlte. »Das ist sehr nett!«
»Sie sollten autogenes Training versuchen«, riet er. »Atmen Sie ganz flach, und konzentrieren Sie sich auf die linke Schulter. Können Sie das?«
»Na sicher!«, antwortete sie entrüstet, als sei sie beleidigt.
»Spüren Sie Ihre Schulter?«
»Ja.«
»Schließen Sie die Augen. Dann gehen Sie in diese Schulter hinein und spüren, wie sie warm wird. Wohlig warm. Lassen Sie sich Zeit, und wenn Sie die Wärme spüren, dann sagen Sie es mir. Ganz locker, und kein Gedanke mehr an die schwierige
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