Ein Hauch von Schmerz: Erotischer Roman (German Edition)
überhaupt etwas mit dem Stück zu tun, für das sie vorsprach? Nachdem sie etwa die Hälfte memoriert hatte, hörte sie zwei Frauen, die sich gegenseitig vorlasen – und zwar einen komplett anderen Text. Sie stöckelte in ihren Schuhen, die ihr bei jedem Schritt enger zu werden schienen, zu der pickligen Frau zurück und monierte, dass sie ihr ein falsches Blatt gegeben hatte. Sie bekam eine Kopie des richtigen Texts und musste noch mal von vorn anfangen. Carly hatte den Text gerade zum zweiten Mal durchgelesen, als sie schon aufgerufen wurde. Sie bat darum, weiter nach hinten geschoben zu werden, doch anscheinend hätte es den Ablauf durcheinandergebracht, sie zehn Minuten später dranzunehmen. Also fügte sie sich in ihr Schicksal und betrat die Bühne.
Wenn sie dem Regisseur sagte, dass sie den Text zu spät bekommen hatte, wäre sie sofort raus. Jede noch so kleine Bemerkung dieser Art führte immer dazu, dass man als Querulant eingestuft wurde. Selbst wenn jemand hohes Fieber hatte, musste er sich tunlichst in Bestform präsentieren. Divenhaftes Verhalten konnte man sich erst leisten, wenn man bei einem Topagenten unter Vertrag war.
Sie gab sich also unverkrampft und freundlich, stellte sich kurz vor und begann zu deklamieren. Die ersten drei Sätze waren noch nah am Original, dann musste sie improvisieren, denn Ablesen war ein No-go.
Der Regisseur fuchtelte mit der Hand herum. »Danke, danke, was war das denn?«
»Ich habe den Text erst vor fünf Minuten bekommen.« Wenn er schon danach fragte, durfte sie es vielleicht erwähnen.
Leider hatte es nicht den gewünschten Effekt. »Wer zu spät zum Casting erscheint, dem ist es nicht ernst mit der Rolle.«
»Ich war rechtzeitig da«, sagte sie, um einen sachlichen Tonfall bemüht, »aber Ihre Assistentin hat mir zuerst einen falschen Text ausgehändigt.«
»Dann hätten Sie eben den lernen sollen. Also wirklich, keine Eigeninitiative.« Sie sah den Regisseur im Halbdunkel den Kopf schütteln. »Danke, das war’s.«
So unfreundlich und obendrein ungerecht hatte man sie noch nie abgefertigt.
Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich nicht mit diesem Stinkstiefel und seinem schlecht organisierten, ungepflegten Team zusammenarbeiten muss.
Wild entschlossen, sich von dieser neuerlichen Schlappe nicht unterkriegen zu lassen, rubbelte sie sich trocken. In einem letzten Akt des Sichabreagierens öffnete sie ihre Umhängetasche, holte den vermaledeiten Text raus und zerriss ihn in allerkleinste Fetzen. Ein weiteres Stück Papier fiel dabei aus der Tasche. Sie nahm es auf und schaute es stirnrunzelnd an. Das war nicht ihre Handschrift, und die Zahlen sagten ihr auch nichts. Sie sahen aus wie eine Handynummer. Aber ja! Der Sonnyboy aus dem Café hatte ihr diesen Zettel gegeben. Den hatte sie komplett vergessen, weil sie gar nicht vorgehabt hatte, ihn anzurufen. Die Trennung von Cameron war noch viel zu frisch.
Und doch hellte sich ihre Stimmung schlagartig auf, als sie an das nette Lächeln und die strahlenden Augen des Kellners dachte. Jonas. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, sich sein Aussehen ins Gedächtnis zurückzurufen. Sehr sympathische Erscheinung. Mitte zwanzig, also etwa in ihrem Alter. Vielleicht sollte sie sich zur Abwechslung einen Freund suchen, der nicht älter war als sie und der ihr darum nicht wie Cam und seine Vorgänger ständig vorkaute, wie erfahren, reif und lebenstüchtig er war – im Gegensatz zu ihr.
Kurz entschlossen wählte sie die Nummer. Es dauerte eine Weile, bis Jonas sich meldete. Im Hintergrund waren vorbeifahrende Autos zu hören.
»Hi, Carly hier«, sagte sie mit ihrer Bühnenstimme, damit er sie trotz des Krachs verstand. »Ich war heute Nachmittag mit meiner Freundin im Café.«
»Ah ja, die beiden Schokomuffins«, sagte Jonas.
»Genau. Ich bin die mit den langen Haaren. An der blonden Schönheit warst du ja nicht interessiert. Wir können uns gerne verabreden. Wie wär’s? Ich wohne drei Häuserblocks vom Café entfernt.« Ach, wenn sie doch bei Castings genauso locker drauf wäre!
»In Ordnung. Ich bin gerade auf dem Heimweg, dusche noch schnell, und dann – also, hm, ich könnte dich mit dem Auto abholen.«
Carly hatte ein feines Ohr dafür, wenn jemand mit etwas hinter dem Berg hielt. War der schnuckelige Jonas doch kein harmloses Bürschchen? »Wieso mit dem Auto?«
»Ich würde dir gern jemanden vorstellen. Dazu müssen wir nach Hampstead. Ich erklär’s dir unterwegs.«
Das war nun wirklich
Weitere Kostenlose Bücher