Ein Hauch von Schnee und Asche
seine Hand spielte mit einer Haarsträhne, während er nachdachte.
»Ich weiß es nicht«, hatte er dann gesagt, schwach gelächelt und sie liebevoll angesehen.
»Aber findest du nicht, dass man als Zeitreisender auch ein bisschen Theologe sein muss?«
Sie hatte tief und gequält Luft geholt, und da hatte er gelacht und das Thema fallen gelassen und sie geküsst, um sich stattdessen irdischeren Dingen zuzuwenden.
Doch er hatte Recht gehabt. Jeder, der einmal durch die Steine gereist war, musste sich fragen: Warum ich? Und wer außer Gott konnte diese Frage beantworten?
Warum ich? Und die, die es nicht schafften – warum sie? Bei dem Gedanken daran durchfuhr sie ein leiser Schauer; die anonymen Leichen, die in Geillis Duncans Notizbuch aufgelistet waren; Donners Kameraden, die das Ziel nur tot erreicht hatten. Apropos Geillis Duncan … Plötzlich kam ihr ein Gedanke: Die Hexe war hier gestorben, fern von ihrer eigenen Zeit.
Ließ man die Metaphysik einmal beiseite und betrachtete das Ganze rein wissenschaftlich – und es musste eine wissenschaftliche Grundlage haben, argumentierte sie stur, es war keine Magie, ganz gleich, was Geillis Duncan gedacht hatte -, besagten die Gesetze der Thermodynamik, dass Masse und Energie weder erschaffen noch vernichtet werden konnten. Nur verändert.
Doch inwiefern verändert? Stellte die Reise durch die Zeit schon eine Veränderung dar? Eine Mücke summte an ihrem Ohr vorbei, und sie wedelte mit der Hand, um sie zu verscheuchen.
Man konnte sich in beide Richtungen bewegen, das stand fest. Die offensichtliche Schlussfolgerung daraus – die weder Roger noch ihre Mutter je erwähnt hatten, also hatten sie diesen Aspekt eventuell ja nie erwogen – war, dass man von seinem Ausgangspunkt auch in die Zukunft gehen konnte, nicht nur in die Vergangenheit und zurück.
Wenn also jemand in die Vergangenheit reiste und dort starb, wie es Geillis Duncan und Otterzahn ja eindeutig getan hatten…, vielleicht musste zum Ausgleich jemand in die Zukunft reisen und dort sterben?
Sie schloss die Augen, weil sie diesen Gedankengang nicht weiterverfolgen konnte – oder wollte. In der Ferne hörte sie die Brandung gegen den Sand rauschen und dachte an das Sklavenschiff. Dann wurde ihr klar, dass der Geruch hier war. Sie stand abrupt auf und spähte aus dem Fenster. Sie konnte gerade eben die Mündung des Weges sehen, der zum Haus führte; während sie hinaussah, kam ein kräftiger Mann mit einem dunkelblauen Mantel und einem ebensolchen Hut schnellen Schrittes aus dem Wald gestapft, gefolgt von zwei anderen, die schäbig gekleidet waren. Seeleute , dachte sie angesichts ihres schwankenden Gangs.
Das musste also Kapitän Jackson sein, der gekommen war, um mit Bonnet zu handeln.
»O Josh«, sagte sie laut und musste sich auf das Bett setzen, weil ihr schwindelig wurde.
Wer war es gewesen? Eine der heiligen Theresas – Theresa von Avila? -, die enerviert zu Gott gesagt hatte: »Nun, wenn du so mit deinen Freunden umgehst, ist es ja kein Wunder, dass du so wenige hast«?
Sie hatte beim Einschlafen an Roger gedacht. Als sie am Morgen wach wurde, dachte sie an das Baby.
Diesmal fehlten die Übelkeit und das merkwürdige Gefühl der Orientierungslosigkeit. Alles, was sie empfand, waren tiefer Friede und … Neugier?
Bist du da? , dachte sie und legte die Hände auf ihren Bauch. Nichts, was
so definitiv gewesen wäre wie eine Antwort, doch ein Wissen, so sicher wie der Schlag ihres eigenen Herzens.
Gut , dachte sie und schlief wieder ein.
Einige Zeit später wurde sie durch Geräusche in der unteren Etage wach. Sie setzte sich abrupt auf, weil sie laute Stimmen hörte, dann wurde ihr schwindelig, und sie legte sich wieder hin. Die Übelkeit war zurückgekehrt, doch solange sie die Augen schloss und sich reglos verhielt, schlummerte der Brechreiz wie eine schlafende Schlange.
Die Stimmen fuhren fort, sich zu heben und zu senken, dann und wann zur Betonung unterbrochen von einem lauten Knall, als wäre eine Faust auf einen Tisch oder an eine Wand geknallt. Doch nach ein paar Minuten verstummten die Stimmen, und sie hörte nichts mehr, bis leise Schritte an ihre Tür kamen. Das Schloss klapperte, und Phaedre kam mit einem Essenstablett herein.
Sie setzte sich hin und versuchte, nicht zu atmen; jeder Geruch von etwas Gebratenem …
»Was ist denn da unten los?«, fragte sie.
Phaedre schnitt eine Grimasse.
»Emmanuel, er ist aufgebracht über die Fulani-Frauen. Die Ibo glauben, dass
Weitere Kostenlose Bücher