Ein Herz bricht selten allein
Alarm. Sie spürte plötzlich: Ich muß hin
zu ihr und nach dem Rechten sehen. Eingebungen überfallen Mütter wie
Heuschnupfen oder Hexenschuß, von einem Augenblick zum anderen.
Zwei Tage nach diesem
Telefongespräch setzte sich Anna in ihren Wagen und fuhr bei Glatteis, Schnee
und Regen nach München.
Bettina stieß einen
Freudenschrei aus, der durchs ganze Treppenhaus hallte, als sie ihrer Mutter
die Tür öffnete, und hörte nicht auf, Anna zu umarmen. »Komm rasch, Bibi ist
noch wach«, sagte sie und zog Anna ins Kinderzimmer.
Bibi, die noch in einer Welt
lebte, in der Zeit und Entfernungen keine Rolle spielen, sah Annas Erscheinen
als einen natürlichen, keineswegs erstaunlichen Vorgang, der in engem
Zusammenhang mit Schokolade und Gummibären stand.
»Die Anni«, sagte sie nur. Sie
hatte die Oma einst Anni getauft, und dabei war es geblieben.
Anna rückte mit der Schokolade
heraus und ließ eine Sturzflut Erzählungen wichtigster Ereignisse wie Fingerverbrennen,
Nasenbluten und Puppenhochzeit über sich ergehen. Dann schwor sie hundert Eide,
Bibi am nächsten Tag vorzulesen, und erkaufte sich schließlich ihren Abgang mit
dem Versprechen, sie auch in den Zoo zu führen.
Endlich war sie mit Bettina
allein. »Du warst natürlich gerade beim Weggehen, was?« sagte sie.
»Nein, ich war nicht beim
Weggehen. Heute ist was Schönes im Fernsehen. Aber habe keine Angst, ich drehe
nicht an, wenn du da bist. Bist du direkt aus Berlin gekommen? Hast du hier zu
tun? Warum hast du dich denn nicht angemeldet? Steigst du wieder in deiner
alten >Adria< ab?« Die Fragen kamen wie Feuergarben, viel zu schnell
hintereinander, als daß Anna eine einzige hätte beantworten können.
Bettina trug graue Flanellhosen
und einen bis weit über die Hüften reichenden zyklamfarbenen Pullover. Anna
mußte sich eingestehen, daß sie eine schöne Tochter hatte. Bettinas Gesicht war
schmaler geworden, die Schläfen schimmerten bläulich. Ohne Zweifel sah sie
etwas übernächtig aus, aber es stand ihr gut. Wie konnte Bernhard sich nur
einer anderen zuwenden?
»Hast du schon was gegessen,
Mama?« fragte Bettina. »Nein, natürlich hast du noch nichts gegessen. Mach’s
dir gemütlich. Leg die Beine hoch. Ich bringe dir was.«
Während Anna ihr Schinkenbrot
verzehrte, rauchte Bettina ihre dritte Zigarette. »Wie viele am Tag rauchst du
eigentlich?« fragte Anna.
»Mütterplagen, Mütterfragen.«
Bettina lachte nur an Stelle einer Antwort. »Ich finde es einfach himmlisch,
daß du da bist. Bitte komm morgen zum Frühstück, damit Bernhard auch seinen
Spaß hat.«
»Sicher komme ich mal zum
Frühstück. Aber ob morgen schon, weiß ich noch nicht.«
Bettina war nicht mehr schlank,
sie war mager, erschreckend mager, stellte Anna fest. Flackerten ihre Augen,
oder täuschte sie sich? Jedenfalls hatten Bettinas Augen einen merkwürdigen
Glanz. Sie saß außerhalb des Lichtkreises, den die Stehlampe verbreitete. »Rück
mal ein bißchen näher, ich kann dich ja gar nicht sehen«, sagte Anna.
Bettina rückte in den
Lichtkreis. »Wie der Wolf im Rotkäppchen! Damit ich dich, besser fressen kann.«
Sie lachte wieder.
Aber Anna war nun, als sie
Bettina unbarmherzig beleuchtet sah, nicht nach Lachen zumute. Bettina sah
nicht nur leicht verbummelt, sie sah elend aus. Natürlich versuchte sie das zu
verbergen. »Seit wann legst du denn Rouge auf?«
»Rouge? Ich bin doch auf keiner
Wanderbühne! Wer legt denn heute noch Rouge auf?«
»Dann hast du Fieber.« Anna
nahm ihre Hand. »Kalt.«
»Siehst du.« Bettina griff
wieder zu den Zigaretten.
Anna besah sich die Packung.
Sie kannte sie nicht, das hatte nichts zu bedeuten. Aber roch der Rauch nicht
merkwürdig? Sie hob die Nase wie ein witterndes Tier.
»Was ist los?«
»Die Zigarette riecht komisch,
Bettina.«
»Wieso riecht sie komisch?«
Bettina beschrieb einen Halbkreis mit der brennenden Zigarette und führte sie
zurück zum Mund. Ihr Lippenstift hatte dieselbe Farbe wie ihr Pullover.
»Du rauchst doch hoffentlich
nicht irgend so ein Rauschgift?«
Bettina lachte fröhlich. »Mama,
du bist eine himmlische Glucke, du mit deiner Gespensterseherei!«
»Hast du dich mal gemessen?«
wollte Anna wissen.
»Wieso messen? Die Größe? Ob
ich gewachsen bin?«
»Mach nicht lang ‘rum! Wo ist
das Thermometer?«
»Du lieber Gott, jetzt geht die
Messerei wieder los«, seufzte Bettina verzweifelt.
»Vermutlich im Bad, ja?« Anna
war schon aufgesprungen, um das Thermometer zu suchen. Und sie
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