Ein Herz bricht selten allein
den
schwärzlichgrauen Wolken hatte die Sonne einen Durchschlupf gefunden. Sie
schickte ein Bündel Strahlen auf die finstere, trübsinnige, mit ausscherenden
Schwiegersöhnen, Krankheiten und Pannen aller Art bestockte Welt. Doch was
half’s. Eigentlich sollte sie sich nicht beklagen. Sie wußte Bettina in Davos
in allerbesten Händen. Sie sah auch Poldis Weg in die Zukunft vorgezeichnet,
und Franzi, das Milchkälbchen, war sowieso ein Sonntagskind. Nur nicht bange
machen lassen. Man durfte nicht unbescheiden sein.
In Berlin fand Anna einen Berg
Post vor. Die Abrechnung von ihrem Verlag war besser, als sie erwartet hatte.
Siehst du, Anna, es geht also weiter.
Allerdings ging es mit erheblichen
Umstellungen weiter. Ein Kind in der kleinen Wohnung... Je nun, Anna hatte die
Erfindungsgabe von Kindern und ihren unbeirrbaren Eigensinn nicht mehr so in
Erinnerung, und Bibi war ein außergewöhnlich lebhaftes Kind. Annas
Schreibmaschine, ihre Arbeit und ihre Appelle zur Erlangung einiger ungestörter
Stunden konnten Bibi überhaupt nicht imponieren. Sie schaffte es mit Charme,
und das machte die erzieherische Strenge schwer. Die Kammer, mit bunten
Regalen, Stofftieren und lustigen Bildern in Windeseile als Kinder- und
Spielzimmer ausgestattet, hatte Bibi mit Kennerblick sofort als Abstellgleis
erkannt. Sie wollte bei Anna sein, sie wollte plappern, tausend Fragen stellen,
um tausendundeine Antwort einzuhamstern, sie wollte aus dem Nähkorb nichts anderes
als die Rasierklingen und die Nadeln haben, mit dem Buntstift wollte sie nicht
auf dem Papier, sondern auf dem Fenstersims malen, und anstatt mit ihren
Bauklötzchen Türme und Häuser zu bauen, zog sie es vor, diese Gebäude aus Annas
Büchern zu errichten. Der Malkasten mit seinen Wasserfarben war fad, hingegen
standen Nagellack und Lippenstift hoch im Kurs.
Anna begann die Auslagen der
Apotheken zu studieren, was es alles an nervenstärkenden Mitteln gab.
Schließlich besorgte sie sich einige Präparate und schluckte sie zu ihrem und
ihrer kleinen Enkelin Wohl. Sie sah ihre Tagebücher mit den Aufzeichnungen über
ihre Kinder durch, um sich klarzumachen, daß Bibi keine außergewöhnliche
Nervensäge, sondern ein normales Kind mit einem gesunden Spieltrieb sei. Er
entfaltete sich eben in den seltensten Fällen in dem dazu ausersehenen
Kinderzimmer. Der Spieltrieb der Kinder findet zielsicher die besten Plätze:
unterm Tisch, auf dem Tisch, auf der Couch, unter der Couch, zwischen den Füßen
der Großen und auf deren Trommelfell. Anna kam sich wie eine ganz brutale
Kerkermeisterin vor, wenn sie Bibi, die ein Gesicht zum Gotterbarmen machte, in
ihr Spielzimmer schickte. Manchmal sperrte sie sie dort ein, stand das
Jammergeschrei aber höchstens zehn Minuten durch.
Nach einer Woche hatte Bibi
sich so gut eingelebt, daß sie die Standplätze der >Nichts für kleine
Kinder< wußte. Sie bereitete sich aus Zucker, Kondensmilch und einer halben
Dose Nescafé einen köstlichen Brei. Anna kam dazu, als Bibi eben die Tasse mit
dem Finger auswischte. Sie fuhr Bibi eilends in eine Klinik, wo ihr der Magen
ausgepumpt wurde. Dann kehrte sie mit ihr nach Hause, legte sie ins Bett und
setzte sich zu ihr. Wieder war ein Arbeitstag zwischen den Fingern zerronnen.
Aber gearbeitet mußte werden, also wurden aus den Arbeitstagen Arbeitsnächte.
Der Strafzettel wegen
Übertretung der Höchstgeschwindigkeit während der Fahrt zur Klinik kam vier
Tage später.
Anna schrieb viele Briefe an
Bettina, damit das arme Kind von Bibi hörte. »Sie ist zwar ein kleiner
Quirl, aber sie stört mich gar nicht. Wir leben hier sehr vergnügt miteinander.
Mach Dir ja keine Sorgen, denk Du nur an Dich und Deine Gesundheit.«
Bibi durfte mit Bleistift unter
die Briefe ihren Krakel machen. Er sah aus wie ein Tausendfüßler und bedeutete
>stets deine gehorsame Tochter Bernhardiner
Franzi hatte sich damit
abgefunden, daß ihre Liebe zu Lester immer mehr zu flüchtigem Zeitvertreib
absank. Sie hatte verschiedene seiner Freunde und Freundinnen kennengelernt und
war in dieser vergnügten, seichten Clique untergetaucht. Rasch gewöhnte sie
sich ihre saloppe Redeweise an und ahmte die Mädchen, die als besonders smart
galten, heimlich nach.
Ihre Augen wanderten bei den
Parties immer wieder zu Lester:
Mach ich’s recht so? Gefalle
ich dir so?
Annas vertrauensselige Briefe
bedrückten sie. Tagelang brütete sie über einer Antwort, und wenn dann endlich
ein Schrieb zustande kam, in dem überwiegend von
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