Ein Herz bricht selten allein
der
Schwester Ina der Frühling sein ruchloses Unwesen treiben und ihre immer
gleichbleibenden Wünsche aus der Reihe tanzen lassen? Die Apfelschnitte war nur
ein Symbol. Wahrscheinlich wünschte sich Schwester Ina etwas ganz, ganz anderes,
aber das konnte man natürlich nicht aussprechen.
Aber der unbescholtenen
Schwester Ina wurde an diesem Frühlingstag nicht einmal die Apfelschnitte
zuteil, denn Bettina hatte eine Begegnung, über der sie Schwester Ina völlig
vergaß.
Nicht, daß Bettina ihr Stammcafé
nicht aufgesucht hätte. O doch, sie saß da und bestellte gehorsam ihre
Schokolade. »Zwei Kilo hätte ich an Ihnen gern noch gesehen«, hatte Professor
Burrli gesagt. Also ‘reinstopfen, was hineinging. Im übrigen war Bettina schon
nahezu süchtig nach diesem nachmittäglichen Kännchen Schokolade. Schokolade
statt Zigaretten, statt Alkohol, statt Liebe, statt Abenteuern. Sie war
anspruchslos, sie war tausend Jahre alt.
Sie hatte ihre Illustrierte vom
Anfang bis zum Ende einschließlich der Anpreisungen von Miederwaren,
Kopfschmerztabletten, Autoreifen, Krawatten, Bodenbelag, Spülmaschinen,
Füllfederhaltern, Qualitätsfasern, Sekten und federleichten Humbugs für den
Herrn mit Stil durchgefilzt.
Jetzt pirschte sie sich eben
ans Kreuzworträtsel heran, allerdings mit gemischten Gefühlen, weil sie
Bernhard seine Kreuzworträtselei immer so verübelt hatte. Da ließ sie eine
Stimme aufhorchen.
Die Stimme sagte: »Chaiber Bub,
wir müssen heim.«
Es war bestimmt nichts
Ungewöhnliches, in Davos Schwyzerdütsch zu hören, aber diese Stimme hier war
nicht irgendeine. Sie hatte in Bettinas Unterbewußtsein einen festen, wenn auch
verborgenen Platz. Die Stimme gehörte Ludwig Seggelin.
Und der in eine andere Sprache
schwer zu übersetzende >chaibe Bub< war ein flachsblonder, stämmiger
kleiner Junge, der von Seggelin mit sanfter Gewalt vor sich hergetrieben wurde,
dem Ausgang des Kaffeehauses zu. Ihm voraus schritt eine hübsche junge Frau,
von Bettina unschwer als Hélène Bartisse identifiziert, an der Hand ein blondes
Mädchen. Das kleine Mädchen hatte ein Bein geschient und zog es etwas nach.
Hélène Bartisse trug ein
dunkelblaues Kostüm.
Sie war ein ideales, adrettes
Frauchen, auf das Männer sprangen, stellte Bettina mit Bitterkeit fest. Sie
selbst war uralt, kraftlos, hölzern, eine schokoladetrinkende
Sanatoriumsinsassin. Hélène schwenkte beim Gehen ihr schickes blaues Kostümchen
und alles, was sich darunter befand, anschaulich nach rechts und links. Ludwig
Seggelin, mit dem Sohn an der Hand, den er vom Schaukasten für Pralinen weggezogen
hatte, schritt wie ein stolzes Familienoberhaupt hinter ihr her. Das Ende der
Prozession bildete ein Boxerhund, Nase und Lefzen am Boden schleifend, als
verfolge er eine hochinteressante Spur. Dabei waren es doch nur die Seggelins.
Es bestand kein Zweifel, daß diese vier inzwischen zu einer glücklichen Familie
verschmolzen waren. Bettinas Backenmuskeln versteiften sich. Sie merkte, wie
ihr Gesicht böse wurde. Warum? Was bedeutete ihr Familie Seggelin? Was die
blaukostümierte Genferin, die sich an den Witwer herangemacht hatte?
Dennoch hielt es Bettina nicht
mehr länger in dem Café. Fast wäre sie weggelaufen, ohne zu bezahlen, und für
die Apfelschnitte für Schwester Ina war schon gar kein Platz mehr in ihren
Gedanken. Bettina sah gerade noch das Auto mit dem polizeilichen Kennzeichen
von Mailand abfahren. Aus dem Rückfenster glotzte treuherzig der getigerte
Boxer.
»Alle fünf sind glücklich,
amen«, murmelte Bettina. »Amen (hebräisch): gewiß, wahrlich, sie hatte das
kürzlich in einem Lexikon für ein Kreuzworträtsel nachgeschlagen. Was trieb man
nicht alles, wenn man immer nur mit sich allein war... Die Eintönigkeit der
Sanatoriumstage wurde von Tag zu Tag unerträglicher.
Die nächsten Tage verbrachte
Bettina damit, nicht an Seggelin denken zu wollen. Aber es gelang ihr nicht.
Sie dehnte ihre Spaziergänge aus, und ihre Augen wanderten ruhelos umher,
suchten, spähten nach Familie Seggelin oder wenigstens dem Hund. Bettina trieb
sich in der Nähe der großen Hotels herum und hielt Ausschau nach einem Wagen
mit der Mailänder Nummer. Aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Schließlich
durchstöberte sie das Telefonbuch, was natürlich ganz sinnlos war. Nein, es war
nicht sinnlos! Es war eine ihrer erfolgreichsten Eingebungen! Denn da stand es,
schwarz auf weiß gedruckt: SEGGELIN, LUDWIG. Bettina wurde es schwummrig, als
sie das
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