Ein Herzschlag bis zum Tod
schaute sie an und blickte plötzlich Paul in die Augen.
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Es war, als schaute man durch die Linse einer Kamera, nachdem man das Bild scharf gestellt hatte. Ihre Haare waren nicht mehr lang und blond, die Nase wirkte rundlicher und stärker nach oben gebogen als auf den Fotos, die ich gesehen hatte. Doch sie war es – oder ihre Doppelgängerin. Das, was so erschreckend vertraut war, die Bewegung des Kopfes und die Form der Augen, kannte ich von Paul. Das Gesicht, dem ich mich gegenübersah, hatte mich von dem Foto auf Philippes Schreibtisch angeblickt: Madeleine.
Oder ihre Zwillingsschwester, dachte ich und kniff die Augen zusammen. Es war wie in der Fernsehserie
Sliders
, in der die Figuren ständig in Paralleluniversen rutschten und ihren Doppelgängern begegneten, die andere Haare und ein anderes Leben hatten, aber das gleiche Gesicht. Dies hier war Madeleine, aber auch wieder nicht.
Sie bedachte mich mit einem anmutigen Mona-Lisa-Lächeln. »Madeleine?«, flüsterte ich.
»Ich dachte, du hättest es unten schon gemerkt.« Sie klang belustigt, als hätte ich einen Witz gemacht.
Meine Gedanken wirbelten durcheinander.
War sie den Entführern entkommen und hatte eine neue Identität angenommen? Litt sie unter Amnesie?
»Du bist nicht tot«, sagte ich dümmlich.
»Natürlich nicht.« Ihr Lachen war Pauls glücklichem Trillern so ähnlich, dass mich ein Schauer überlief.
»Aber du bist mit Vince verheiratet – ihr habt Zwillinge.« |308| Ich hatte doch das Foto bei ihnen zu Hause gesehen: hübsche Teenager mit glänzendem Haar, die in Connecticut zur Schule gingen.
»Sicher sind wir verheiratet. Schon über sechs Monate.« Ihr Ton war freundlich, als würde sie auf einer Party plaudern. »Aber die Zwillinge sind nicht von mir. Sie stammen von Vince und seiner lieben verstorbenen ersten Frau.«
Es war wie ein Albtraum, in dem bizarre Dinge geschehen, die eigentlich gar nicht möglich sind.
»Aber man hat deine Leiche gefunden. In deinem Auto. Die zahnärztlichen Unterlagen passen.« Ich erkannte meine eigene Stimme kaum wieder.
Sie lächelte nachsichtig, als wäre ich ein bisschen schwer von Begriff. »Troy, es war nicht so schwer, die Namen zu ändern – Männer lassen sich leicht manipulieren. Natürlich war ich nicht die Leiche; das war irgendeine Frau, die im Weg stand und verschwinden musste. Sie sah aus wie ich, es hat also wunderbar funktioniert.« Es hörte sich an, als wäre das alles durchaus logisch, und in gewisser Weise war es das auch.
In diesem Augenblick, auf dem sanft schwankenden Segelboot in dieser herrlichen Mondnacht, begriff ich, dass ich es mit einer Psychopathin zu tun hatte. Die Philippe geheiratet hatte, die noch immer mit ihm verheiratet war, die Paul zur Welt gebracht hatte. Die sich in den vergangenen sechs Monaten geschickt und überzeugend tot gestellt hatte und gerade andeutete, dass sie eine andere Frau an ihrer Stelle getötet hatte.
Plötzlich war ich ganz ruhig. Mein Atem wurde gleichmäßig, mein Gehirn schaltete auf Überleben. Während ich mir den nächsten Satz zurechtlegte, schätzte ich die Entfernung zwischen uns ab, wie konzentriert sie war, wie ihr nächster Schritt aussehen könnte, welche Möglichkeiten mir blieben. Die Frau erzählte ganz gelassen, wie sie ihre Doppelgängerin getötet hatte oder hatte töten lassen. Wenn es nach ihr ging, würde ich dieses Boot nicht lebend verlassen.
|309| »Du bist also gar nicht entführt worden.« Ich versuchte, meine Stimme zu beherrschen.
»Natürlich nicht.« Ihr Haar war perfekt frisiert, Kleidung und Make-up waren makellos.
Instinktiv wusste ich, dass ich sie reden lassen musste. »Warum bist du nicht einfach gegangen und hast ihn verlassen?«
Sie lachte. »Laut Ehevertrag hätte ich praktisch nichts bekommen. Auf diese Weise habe ich eine nette Summe zusammengekriegt, mehr als genug, um Vince davon zu überzeugen, dass ich nicht auf sein Geld scharf war.« Sie schien stolz auf ihr geschicktes Spiel.
»Du hast alle überzeugt, sogar Claude.« Ich wartete auf ihre Reaktion.
Ihre Augen zuckten. »Claude glaubt also, es sei meine Leiche?«
»Ich denke schon. Er war sehr erschüttert.«
Eine Veränderung ging mit ihr vor, und es war, als sähe ich zwei Personen in einem Körper: Die eine voller Bosheit und Wut, die andere bereute, dass sie ihren Bruder im Stich gelassen hatte. »Claude war nicht so unverzichtbar, wie er geglaubt hat«, sagte sie schließlich.
Ihre Stimme veränderte sich, sie klang
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