Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
geschlungen, das Gesicht in ein langes geblümtes Wollkleid im Oma-Look gedrückt. Neben sich hat sie, um den Wind ein bißchen abzuhalten, eine Einkaufstasche mit Ringgriffen gestellt. Erst als LaPointes Schatten sie fast berührt, schaut sie erschreckt auf. Ihr Gesicht ist dünn und blaß, und ihr linkes Auge ist geschwollen, ist nur noch ein schiefer Spalt, das Blau geht bis zum Backenknochen.
»Ist was mit Ihnen?« fragt er auf englisch. Das Omakleid läßt ihn annehmen, daß sie eine Anglo sei; er verbindet das Neue, das Moderne, das Modische mit der anglokanadischen Lebensform. Sie gibt keine Antwort. In ihrem Gesicht liegt eine Mischung aus Trotz und Hilflosigkeit.
»Wo wohnen Sie denn?« fragt er.
Noch immer das Kinn auf den Knien, schaut sie ihn mit festem, mißtrauischem Blick an. Ihr Unterkiefer nimmt einen harten Zug an, weil sie die Zähne zusammenbeißt, damit sie nicht klappern. Dann taxiert sie ihn mit einem schrägen Blick. »Sie wollen mich mit nach Hause nehmen?« fragt sie in Joual-Französisch. Ihre Stimme ist flach, vielleicht vor Müdigkeit, vielleicht vor Gleichgültigkeit.
»Nein, ich möchte wissen, wo Sie wohnen.« Das soll nicht hart und amtlich klingen, aber er ist müde, und ihr direkter, leidenschaftsloser Antrag kommt ihm unerwartet.
»Das geht Sie gar nichts an.«
Ihre Dreistigkeit fuchst ihn ein bißchen, aber sie hat ja recht. Es geht ihn wirklich nichts an. Junge Dinger wie die werden täglich auf die Main geschwemmt. Treibgut. Verlierer. Sie gehen ihn nichts an, bis sie in der Patsche sitzen. Er kann sich schließlich nicht um alle kümmern. Er zuckt die Achseln und wendet sich zum Gehen.
»He?«
Er dreht sich um.
»Also, nehmen Sie mich nun mit nach Hause?« In ihrem Ton ist nichts von Koketterie. Sie ist blank und hat keine Schlafstelle; aber sie hat einen écu. Hier geht's um ein Geschäft.
LaPointe seufzt und kratzt sich am Kopf. Sie muß so Anfang Zwanzig sein, jünger als seine Traumkinder. Es ist spät, und er ist müde, und dieses Mädchen bedeutet ihm nichts. Ein spindeldürres Ding mit einem spitzbübischen, von einem blauen Auge entstellten Gesicht und alles andere als attraktiv in der viel zu weiten wollenen Männerjacke, ihrem einzigen Schutz gegen den Wind. Ihre Hände sind steifgefroren und schimmern lila im Licht der Laterne.
Nicht attraktiv, wahrscheinlich dumm. Ein Verlierer. Was aber, wenn sie morgen in dem Frühbericht unter der Rubrik Notzuchtverbrechen auftaucht?
»Na, dann«, sagt er, »dann kommen Sie mal.«
Kaum hat er das gesagt, tut es ihm schon leid. Ein verdrecktes Hürchen, das ihm die Wohnung durcheinanderbringt – das hat ihm gerade noch gefehlt.
Sie macht eine Bewegung, als wolle sie aufstehen, dann schaut sie ihn von der Seite an. Für sie ist er ein alter Mann, und mit alten Männern weiß sie Bescheid. »Ich mach' keine … Spezialitäten«, warnt sie ihn nüchtern-sachlich.
Ihm kommt kurz die Galle hoch. Du lieber Gott! Die ist jünger als seine Töchter. »Kommen Sie nun?« fragte er ungeduldig.
Eine kurze Pause, und sie zuckt die Achseln, erhebt sich und nimmt ihre Einkaufstasche auf. Sie gehen nebeneinander zum Ausgang. Erst meint er, sie sei steif vor Kälte und von ihrer Hockstellung. Dann merkt er, daß sie hinkt: Das eine Bein ist kürzer als das andere, und die Einkaufstasche schlägt ihr beim Gehen gegen das Knie.
Er schließt die Wohnungstür auf und faßt um die Ecke, um das rot-grüne Deckenlicht anzumachen, tritt dann zur Seite, während sie voraus in das kleine Wohnzimmer geht. Weil der Kitt in den großen Erkerfenstern brüchig geworden ist, rattern sie im Wind, und die Wohnung ist kälter als der Hausflur.
Kaum hat er die Tür zugemacht, ist ihm gar nicht mehr wohl zumute. Alles erscheint ihm zu eng, zu klein für zwei Personen. Ohne den Mantel abzulegen, bückt er sich und macht das Gas im Kamin an. Er hockt davor und hält den Hebel so lange runter, bis die porzellanenen Zündkegel im Gezüngel der kraftlos blauen Flammen orangerot erglühen.
Merkwürdig, sie fühlt sich wohler hier als er. Sie steuert auf das Fenster zu und schaut runter auf die Parkbank, wo sie noch vor wenigen Minuten gesessen hat. Sie rubbelt sich die Oberarme, vermeidet es aber, sich neben ihn ans Feuer zu setzen. Sie will nicht, daß er denkt, sie brauche was von ihm.
Ächzend erhebt sich LaPointe vom Feuer. »So. Gleich wird's warm. Möchten Sie einen Kaffee?«
Sie zieht die Mundwinkel herab und zuckt die Achseln.
»Heißt das,
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