Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
Autoritäten innerhalb und politische Interessen außerhalb des Departments, unwahrscheinliche Legenden über seinen Mut. Guttmann ist intelligent genug, von diesen Geschichten zwei Drittel als Ausschmückung abzuziehen, wie sie französische Beamte in ihrem Drang, gegenüber ihren anglophonen Vorgesetzten einen frankophonen Helden aufzubauen, dazuphantasiert haben.
Rein physisch bestätigt LaPointe Guttmanns Vorurteil: das breite Gesicht mit den tiefliegenden Augen, in dem praktisch das ganze französische Kanada ausgebreitet ist; die angegrauten dichten Haare, die so aussehen, als kämme er sie mit den Fingern; und natürlich der berühmte verbeulte Mantel. Aber er findet auch Züge, die er nicht erwartet hat, Züge, die seinem Zerrbild vom harten Bullen widersprechen. Da ist etwas, was man ›Distanz‹ nennen könnte, eine Tendenz, am Rande der Dinge zu verweilen, zurückhaltend und fast träumerisch. Und dann ist da etwas in LaPointes geduldiger Gelassenheit, in der Weichheit seiner heiseren Stimme, in den Fältchen um seine Augen, was er nicht erwartet hat, was ihm ein Aussehen gibt … das einzige Wort, das Guttmann in den Sinn kommt, ist ›väterlich‹. Er erinnert sich, daß junge französische Polizisten zuweilen von ihm als von ›Papa LaPointe‹ sprechen, natürlich, wenn er außer Reichweite ist.
»… und da erzählt dieser Toppauslecker, dieser Korinthenkacker, diese lästige Stechmücke, überall rum, was für 'n Held er im Krieg gewesen ist. Dieser Pickel auf 'nem Hurenarsch – diese Warze, erzählt doch überall rum, was für 'ne nette kleine Penne er hat! Diese Hurenarsch-und-Mücken-Warze erzählt …«
Mit einer Handbewegung unterbricht LaPointe Dirtyshirt Reds Haßtiraden, gerade als er so richtig in Fahrt kommt. »Genug jetzt, du siehst dich um nach dem Vet. Wenn du ihn ausfindig gemacht hast, rufst du beim QG an. Du weißt ja die Nummer.« Mit einer kurzen Kopfbewegung entläßt LaPointe den Penner, der zur Tür schlurft und raus in die Nacht.
Guttmann beugt sich vor: »Dieser Vet, ist das der Mann mit dem Schlapphut?«
LaPointe runzelt die Stirn und schaut den jungen Polizisten an, als habe er ihn erst jetzt bemerkt: »Warum gehen Sie nicht nach Hause?«
»Bitte?«
»Hier können wir nichts mehr tun. Gehen Sie nach Hause, und legen Sie sich schlafen. Ich seh' Sie dann morgen in meinem Büro.«
Guttmann steigt auf den kühlen Ton des Lieutenants ein: »Hören Sie, Lieutenant, ich weiß, daß Gaspard mich sozusagen an Sie abgeschoben hat. Wenn Sie lieber nicht …« Er zuckt die Achseln.
»Ich seh' Sie morgen.«
Guttmann schaut auf die Kunststoff-Tischplatte. Er zieht die Luft geräuschvoll ein. Mit LaPointe wird es nicht gerade lustig werden. »In Ordnung, Sir. Ich bin um acht Uhr da.«
LaPointe gähnt und schrubbt sein Mattenhaar mit der Handfläche. »Da können Sie lange warten. Ich bin müde. Vor zehn, elf Uhr bin ich nicht darin.«
Als Guttmann fort ist, stiert LaPointe wie blind durch die Scheibe. Er fühlt sich zu müde und abgeschlafft, als daß er sich aufraffen und in seine kalte Wohnung schleppen könnte. Doch er kann ja nicht die ganze Nacht hier sitzenbleiben. Brummend steht er auf.
Da die Straßen ansonsten leer sind, bemerkt LaPointe an der Ecke ein Pärchen. Sie halten sich umschlungen, und der Mann hat sie in seinen Mantel gehüllt. Sie drängen sich aneinander und schwingen. Es ist morgens um halb fünf und kalt, und ihr einziger Schutz ist sein Mantel. LaPointe schaut weg, er will ihre Intimität nicht stören.
Als er an der Avenue Esplanade um die Ecke biegt, schlägt ihm der Wind den Kragen hoch. Staub und Abfälle wirbeln neben dem eisengitterbewehrten Kellerschacht. LaPointes Körper braucht Sauerstoff; jeder Atemzug ist wie ein Seufzer.
Eine schwache Bewegung im Park erregt seine Aufmerksamkeit. Ein Schatten auf einer der Bänke, die im fahlen Licht einer Laterne stehen. Da sitzt jemand. Vor seinem Haus dreht er sich um und schaut noch mal zurück. Die Gestalt hat sich nicht bewegt. Es ist eine Frau oder ein Kind. Der Schatten ist so schmal, daß die Gestalt keinen Mantel anhaben kann. LaPointe geht ein, zwei Stufen hoch, macht dann kehrt, geht über die Straße und betritt den Park durch ein quietschendes Eisengatter.
Obgleich sie eigentlich den Kies unter seinen heranstapfenden Schuhen müßte knirschen hören, rührt sich das junge Mädchen nicht. Sie sitzt da mit angezogenen Knien, die Hacken dicht am Gesäß, die Arme um die Beine
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