Ein Herzschlag danach
bleiben, solange du willst, eine Woche, zwei Wochen, wie auch immer. Darüber reden wir morgen Früh.«
Eine oder zwei Wochen? Schon beim bloßen Wort Woche wurde mir vor Empörung glühend heiß. Eine Woche oder zwei Wochen? Das war nicht mal annähernd das, was ich im Sinn hatte!
4
Kurz nach zwei Uhr fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Ich setzte mich aufrecht hin und presste das Kissen vor die Brust. Mein Herz schlug wie rasend, als hätte ich einen Sprint durchs Gelände hinter mir. Es dauerte eine Weile, bis ich mich auf meine Umgebung besinnen konnte. Allmählich normalisierte sich meine Herzfrequenz wieder und der Adrenalinspiegel sank. Ich schwang die Beine aus dem Bett, blieb eine Weile auf der Bettkante sitzen und starrte in die Dunkelheit.
An lebhafte Träume hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich monatelang denselben Albtraum gehabt: Meine Mutter floh in Todesangst durch das Haus. Ihr Kleid war blutdurchtränkt. In diesen Träumen war immer ich es, die sie jagte, die beobachtete, wie sie in ihrer Panik gegen die Möbel stieß und wie blind weiterstolperte, bis sie auf der untersten Treppenstufe strauchelte und stürzte. Und von dort blickte sie über die Schulter zu mir zurück und schrie und schrie, bis mich ihre Schreie aufweckten.
Der Albtraum war normalerweise schon schlimm genug, aber heute Nacht war er anders gewesen. Die Handlung war zwar immer noch dieselbe, doch dieses Mal lief der Traum gewissermaßen in HD -Qualität ab – er war so lebensecht, dass ich das Blut riechen konnte. Es roch wie Kupfer, Rost und überreife Kirschen. Ich sah selbst die feinsten Wirbel der Holzmaserung an den Säulen und Handläufen des Treppengeländers. Hatte die Normalversion immer damit geendet, dass meine Mutter am Fuß der Treppe stolperte, über die Schulter zu mir zurückblickte und zu schreien anfing, so gab es jetzt einen entscheidenden Unterschied: Ich schwebte irgendwo über ihr und beobachtete, wie sie starb. Und dann sah ich mich selbst, in meiner Schuluniform und mit zerrissenen Strümpfen. Mein Gesicht war bleich, die Augen waren weit aufgerissen und ich hielt das Messer in der Hand, mit dem ich einem der beiden Straßendiebe beinahe das Auge ausgestochen hätte. Von der gezackten Klinge tropfte Blut und rann warm und klebrig über meine Hand.
Erst dann war ich aufgewacht.
Ich fuhr mit den Händen durch das Haar und zog das Haarband heraus. Wasser – ich musste etwas trinken. Ich musste die furchtbaren Bilder aus meinem Kopf vertreiben, und wenn ich schon dabei war, auch aufhören, mir ständig darüber Gedanken zu machen, was ich dem Jungen in London beinahe angetan hatte.
Auf Zehenspitzen schlich ich durch den Flur. Unter Jacks Zimmertür drang kein Licht hervor. Auf keinen Fall wollte ich ihn aufwecken, denn er musste heute sehr früh aufstehen. So leise wie möglich schlich ich die Treppe hinunter. Ein paar Stufen knarrten entsetzlich. Auf halbem Weg blieb ich stehen und lauschte – aber aus seinem Zimmer war nichts zu hören. Offenbar war es kein Kunststück, einen Agenten dieser angeblichen Eliteeinheit auszutricksen.
Der Linoleumboden der Küche quietschte unter meinen nackten Füßen. Ich blieb einige Minuten lang unbeweglich vor dem Kühlschrank stehen, starrte auf das Foto meiner lachenden Mutter und brannte es mir ins Gedächtnis ein, um die schlimmen Bilder meines Albtraums zu vertreiben. Vielleicht hatte Jack das Foto aus demselben Grund dorthin gehängt – um andere, schlimmere Bilder zu übertünchen. Schließlich öffnete ich die Kühlschranktür. Wohltuende kalte Luft schlug mir entgegen.
»Du bist doch nicht etwa hungrig?«
Unwillkürlich japste ich auf und schlug mir die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken.
»Was …? Verdammt …! Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt!«, flüsterte ich wütend. Meine Knie waren weich und ich musste mich an der Kühlschranktür festhalten, bis sich mein Herzschlag wieder normalisierte. Noch mehr Adrenalinschübe dieser Art und ich würde einen bleibenden Schaden davontragen.
Alex stand höchstens eine Handbreit entfernt hinter mir. Der Himmel mochte wissen, woher er kam und wie er sich dermaßen leise hatte anschleichen können. Ich musste meine Meinung über die Qualität der Recon-Ausbildung wohl überdenken. Langsam drehte ich mich um, schoss ihm einen wütenden Blick zu und taumelte zum Tisch.
»Sorry«, sagte er, während er nach dem Schalter tastete und das Licht
Weitere Kostenlose Bücher