Ein Hueter erwacht
schaudern wie in ärgster Winterkälte.
»W-welcher Kelch?« bibberte es von seinen Lippen. »I-ich weiß nicht, wovon Sie reden, meine Herren.«
»Verraten Sie es!«
Es war der junge Inder, der jetzt sprach. »Sie haben von Edward Montgomery erfahren, daß Sie um den Verbleib des Kelches wissen. Also reden Sie, Mann. Es ist zu Ihrem Besten!«
»Von Montgomery erfahren?« echote Harvester ungläubig. »Wie?«
»Sie haben ihm sein Wissen genommen«, erklärte Radhey Pai. »Und das steht Ihnen auch bevor, wenn Sie nicht .«
Zu spät.
Die Zwölf hatten James Harvester erreicht.
Und sie nahmen sich sein Wissen!
Ihre Hände tasteten nach seinem Gesicht, und kaum hatten sie seine schweißnasse Haut berührt, schienen sie sich zu verändern, ihre Stofflichkeit zu verlieren. Finger, die zu nebelhaftem Gewürm geworden waren, durchdrangen James Harvesters Gesicht und glitten tiefer. Eiskalten Skalpellen gleich teilten sie seinen Geist, trennten Interessantes von Unwichtigem.
Harvester hörte sich schreien, hörte, wie seine Stimme erstarb, während die Zwölf sein Wissen durchforsteten und zerpflückten.
Wie sie letztlich fündig wurden, bekam er schon nicht mehr mit.
Gebrochenen Blickes und mit zerschundenem Gesicht lag James Harvester da, während die Zwölf und Radhey Pai sich wieder auf den Weg machten.
Ihre Jagd nach dem Lilienkelch nahm ihren Fortgang .
*
Jedem Menschen wäre das Szenario bizarr und erschreckend erschienen.
Geraint fand es bezaubernd und genoß es.
Er selbst saß in einem samtgepolsterten Sessel, die Spitzen der bleichen, sehnigen Finger gegeneinander gelegt. Alfred hatte am Cembalo Platz genommen; seine Hände schienen nur über die Tasten zu schweben. Eine wehmütige Melodie geisterte durch das Haus.
Und zwischen ihnen lag Sham, im Tode verkrampft und steif.
»Ich versteh's nicht«, murmelte Geraint halblaut.
Alfred hörte ihn dennoch. Er improvisierte einen Schlußakkord, dann sah er auf.
»Die Gabe neuen vampirischen Lebens scheint nicht allein im Kelch zu liegen«, meinte er.
Geraint zuckte bedauernd die Schultern.
»Offenbar«, sagte er und fügte seufzend hinzu: »Es braucht wohl doch den wahren Hüter zur Kelchtaufe.«
Der Vampir erhob sich.
»Sei's drum - es war den Versuch wert.«
»Was habt Ihr nun mit dem Kelch vor, da er für Euch wertlos ist?« fragte der Diener.
»Vielleicht werde ich versuchen, Landru ausfindig zu machen, um ihm zu übergeben, wonach er Jahrhunderte lang vergeblich gesucht hat«, erwiderte Geraint. Ein verschlagenes Lächeln spielte um seine Lippen. »Der Anblick seines dummen Gesichtes dabei ist mir die Million Pfund wert. Vielleicht wird mein Erfolg ihm die Arroganz austreiben.«
»Ihr solltet Euch nicht mit Landru anlegen«, warnte Alfred. »Ich trau' ihm nicht über den Weg. Möglicherweise gibt er nicht allzu viel auf den Kodex. Wer weiß, wie oft er ihn schon gebrochen hat .«
»Du meinst, Landru könnte die Hand gegen seinesgleichen erheben?« fragte Geraint. »Nein, das glaube ich nicht. Immerhin hat er sich stets als Hüter vampirischer Sitten aufgespielt, solange ich ihn kenne.«
Alfred wiegte nur den Kopf. »Ich wäre mir da nicht sicher, Herr. Zudem - wer sagt Euch, daß Landru noch lebt? Vielleicht hat das große Sippensterben auch ihn dahingerafft?«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Geraint. »Soweit ich es in diesem Jahr beobachten konnte, haben die Oberhäupter der Sippen diese Seuche, oder was den Tod der Vampire auch verursacht hat, überstanden. Es scheint also, daß sie wie auch Einzelgänger, wie wir es sind, davon unberührt bleiben oder gar immun dagegen sind, aus welchem Grund auch immer. Insofern gehe ich davon aus, daß auch Landru nicht daran zugrundegegangen ist.«
»Wie wollt Ihr ihn finden?« fragte Alfred.
»Mhm«, machte der Vampir, »mal sehen. Dem Vernehmen nach war er in der jüngeren Vergangenheit häufig in Sydney anzutreffen, dieses Hurenbalges Lilith Eden wegen. Vielleicht werde ich dort mit meiner Suche beginnen.«
»Soll ich mit dem Packen beginnen, Herr?« wollte der Diener wissen.
Geraint überlegte kurz, nickte dann wie geistesabwesend. »Ja, sicher. Packen Sie, Alfred. Wir reisen ab.«
»Ganz ohne Abschiedsfest diesmal?« wunderte sich der Diener. Enttäuschung zeichnete sich in seinen müden Zügen ab.
»Ja, diesmal ohne Feier.« Geraint lächelte Alfred zu. »Keine Sorge, ich lasse dich schon nicht darben. Wir nehmen unterwegs noch - ein Schlückchen.«
»Sehr wohl, Herr.«
Alfred
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