Ein Hueter erwacht
gleich wieder schloß. Die ersten Tropfen rannen zu Boden, dann hatte Geraint seine Hand über den Kelch gebracht, und der Kelch fing das Blut auf, lautlos, als fände es in der Schwärze dort keinen Widerhall.
Eine ganze Weile ließ Geraint seinen Lebenssaft so rinnen, dann zog er die Klaue aus seinem Fleisch und strich mit den Fingern über die Wunde, die daraufhin nahezu verschwunden war. Schließlich nahm er Sham den Kelch aus der Hand, sah in dessen Öffnung hinein und schwenkte ihn kreisförmig. Die dunkle Bewegung darin fiel kaum auf.
»Wenn du nur um die Bedeutung dieses Momentes wüßtest«, sagte er, als er den Kelch an Shams Lippen hob.
»Geraint, ich ...« Die Barrieren, die Geraint um Shams Willen errichtet hatte, schienen brechen zu wollen.
»Schweig!« befahl der Vampir, und augenblicklich beruhigte sich das Mädchen. Gehorsam öffnete es den Mund.
»Und trink«, lächelte Geraint. Er kippte den Kelch.
Schwarz rann es über Shams Lippen. Heftig begann sie zu schlucken.
Immer höher richtete Geraint das Ende des Kelches.
»Ja, trink, trink alles .«
Sham begann zu husten und schluckte dennoch weiter. Der letzte Tropfen schwarzen Blutes perlte aus dem Kelch.
Sham würgte, ohne zu erbrechen. Ihr Hals krampfte sich zusam-men wie im unbarmherzigen Griff einer unsichtbaren Hand. Ihre eigenen Hände fuhren hin, die Nägel krallten sich in die Haut um ihre Kehle, als wollten sie sie aufreißen. Dann verkrampfte sich ihr ganzer Körper, schien zu versteinern - - und in dieser Haltung kippte Sham vornüber.
Hart schlug sie am Boden auf. Erst dort streckte sie sich, bebend und stöhnend. Ein letzter rasselnder Atemzug - dann war es vorüber. Starr lag Sham da, tot.
»Ist das . normal?« Alfreds Frage klang zweifelnd.
Geraint wiegte sachte den Kopf. »Ja . Ich glaube, ja.«
»Ihr glaubt?«
»Nun, auch die Kinder, die der Hüter mit dem Kelch auf diese Weise taufte, starben. Und nach einer Weile erwachten sie wieder -als Vampire«, erklärte Geraint.
»Mit Verlaub, Herr: Die junge Lady hier erweckt mir nicht den Eindruck, als könnte sie sich je wieder erheben«, wandte Alfred ein. Er war nähergekommen und stieß jetzt mit der Fußspitze gegen die Tote.
»Es dauert vielleicht ein Weilchen«, meinte der Vampir.
Schweigend sahen sie auf Sham hinab. Nichts rührte sich an ihr. Keine Regung verriet, daß neues Leben in ihr keimte.
»Alfred ...«, begann Geraint schließlich.
Der Diener fiel ihm nickend ins Wort. »Ich weiß, Herr: Musik, nicht wahr?«
Geraint lächelte. »So ist es.« Er wandte sich zur Tür, drehte sich auf halbem Wege jedoch nach seinem Diener um: »Ach, Alfred, nehmen Sie unsere junge Freundin mit. Ich möchte sie im Auge behalten.«
Der Vampir ging hinüber in den Musiksalon. Alfred folgte ihm -um vieles langsamer und unter seiner Last laut ächzend.
»Langes Leben hat durchaus auch seine Nachteile«, hörte Geraint ihn ungehalten keuchen.
»Keine Müdigkeit vorschürzen, mein Freund!« rief er ihm zu. »Ich würde dich ungern entlassen müssen. Vergiß nicht: Es dürfte schwierig sein, in deinem Alter noch einen neuen Job zu finden.«
Geraints Lachen hallte durch das Haus, zersplitterte in Dutzende von Echos und schien schließlich jeden einzelnen Raum zu füllen.
*
James Harvester haßte seinen Vornamen. Weil er ihm wie ein Fluch schien. Ein Fluch, der ihm diesen Beruf eingebracht hatte.
Butler .
Daß es ihn noch dazu nach Indien verschlagen hatte, dieses Land, das - zumindest für ihn - mit dreckig, staubig, stinkend, lärmend, häßlich und heiß ebenso ausreichend wie zutreffend charakterisiert war, machte ihm sein Leben noch unerträglicher.
Dennoch ertrug er all das mit stoischer Gelassenheit. Wie es eben sein Job war .
Irgendwann, so schwor James Harvester sich gerade wieder einmal, würde er ein Buch schreiben über diese versnobte und verachtenswerte Gesellschaft, in deren Diensten er stand. Am liebsten hätte er ja seine Faust in jede einzelne dieser hochnäsigen Fressen geschlagen, wie sie da um ihn herum versammelt waren und in den wuchtigen Ledersesseln hockten. Aber das hätte ihm nicht mehr eingebracht als ein kleines bißchen persönlichen Triumph - und die Stellung gekostet.
Nein, in seinem Buch würde er diesen Kerlen die Maske des Biedermannes abreißen und ihr wahres Wesen darstellen. Er kannte die mitunter perversen Geheimnisse eines jeden einzelnen von ihnen, und ein Buch darüber würde ihm eine Menge Geld einbringen -selbst dann, wenn er es
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