Ein Jahr in Andalusien
an diesem Julitag verheiratet werden. Doch als die Stunde der Messe kam, war die Braut nicht aufzufinden. Die ersten
Gäste machten sich von dem Bauernhaus bereits auf den Nachhauseweg.“ Wir sind mitten in eine Geschichtenerzählerrunde geplatzt. Ein Junge mit
angenehmer Stimme hat die Rolle des Erzählers übernommen. Mit einem unüberhörbaren Klick öffnen wir unsere Bierdosen und lauschen. „Es dauerte nicht
lang, da waren die Gäste wieder zurück – völlig außer sich. Auf dem Weg hatten sie den Cousin der Braut gefunden, blutüberströmt lag der junge Mann tot
am Wegrand. Mit den übrigen Hochzeitsgästen kehrten sie zu der Stelle zurück, wo sie den Körper gefunden hatten. Sie suchten die Umgebung nach Hinweisen
ab und entdeckten nicht weit entfernt schwer verletzt die Braut.“ Der Junge macht eine Kunstpause. „Sie hatte sich mit ihrem Cousin aus dem Staub
machen wollen, um mit ihm, ihrer wahren Liebe, ein gemeinsames Leben zu beginnen. Doch der Bruder von dem betrogenen Bräutigam war dem fliehenden
Liebespaar gefolgt und wollte den Verrat der beiden rächen.“
„Das ist doch die Geschichte von Federico García Lorcas Theaterstück ‚Die Bluthochzeit‘“, sagt einer aus der Runde. „Ja“, gibt der Erzähler zu. „Aber
es ist die wahre Begebenheit, die Lorca zu seinem Werk inspirierte. Die echte Braut starb im Jahr 1987 im Alter von vierundachtzig Jahren in Níjar. Ein
Großteil ihrer Familie und der Dorfgemeinschaft und vor allem der Bräutigam haben bis zum Tag ihres Todeskein Wort mehr mit der
abtrünnigen Braut gewechselt.“ Ein Raunen geht durch die Runde, mit seiner Erzählung hat der Junge alle in Bann gehalten. Esther und ich kommen mit den
anderen ins Gespräch, und ehe wir uns versehen, ist es zwei Uhr morgens. Als ich mich zurückziehe, ist Esther in ein intensives Gespräch mit einem
Jungen vertieft, ihren neuen Lover scheint sie schon wieder vergessen zu haben.
Den nächsten Tag verbringen wir mehr im Wasser als am Strand. Am Ende des Tages sind meine Hände und Füße verschrumpelt, als wäre ich zu lange in der
Badewanne gelegen. Wir ernähren uns von Obst und Brot, wenn wir müde sind, legen wir uns in den Schatten und schlafen, wenn wir Unterhaltung wollen,
gehen wir zu einer der Gruppen, die in der Bucht verteilt sitzen. Esther hatte recht, einen besseren Ort kann ich mir bei diesen Temperaturen wirklich
nicht vorstellen. Mit Jaime muss ich unbedingt wieder hierher kommen.
Auf dem Rückweg trage ich die Kühlbox alleine in einer Hand. Das Eis ist geschmolzen, die Dosen sind leer, und vom Obst ist auch
nichts mehr übrig. Kaum kommen wir in Las Negras an, fallen wir in eine der Bars ein. Erst jetzt merken wir, wie hungrig wir sind. Salzverkrustet und
braungebrannt setzen wir uns schließlich in meinen Bus. Als wir gerade auf die Autobahn fahren, rückt wieder das Plastikmeer um Almería in mein
Blickfeld.
„Weißt du etwas über die intensive Landwirtschaft um Almería herum?“, frage ich Esther. „Mmh“, sie überlegt. „Ich habe mal einen Dokumentarfilm
gesehen, in dem ging es darum, dass dort oft illegale Einwanderer für wenig Geld und zu schlechten Arbeitsbedingungen schuften.“ Da fällt es mir wie
Schuppen von den Augen. Das ist das Thema, das ich für das Recherchestipendium einreichen will. Auf der gesamten Fahrt bis nach Málaga geht mir die Idee
nichtmehr aus dem Kopf. Ich setze Esther am Busbahnhof ab, und kaum habe ich meine Sachen vom Sand befreit und eine Waschmaschine
befüllt, sitze ich schon am Computer, um zu recherchieren, was in deutschen Medien bereits zu dem Thema erschienen ist und wer mein Ansprechpartner sein
kann. Nach einem ersten Überblick bin ich enttäuscht. Ich finde eine Menge Reportagen zur Situation auf den Plantagen in El Ejido.
Während ich noch frustriert durch die Artikel blättere, kommt Jaime nach Hause, auch er war mit ein paar Freunden am Strand, in der Nähe von Nerja. Ich
lasse ihm keine Zeit, Sonnenschirm und Rucksack abzulegen, sondern stürme sofort auf ihn zu. Nach einer langen Umarmung teile ich ihm aufgeregt mit,
dass ich ein Recherchethema gefunden habe; auch meinen Frust, dass es vielleicht nicht das Originellste ist, lade ich ab. „Lass mich erst mal ankommen“,
sagt er. Doch noch während er seine Sachen sortiert, denkt er laut über das Thema nach: „Vielleicht musst du einfach die aktuelle Wirtschaftslage als
Aufhänger nehmen. Jetzt, wo in Spanien die Baubranche zusammengebrochen ist und viele Spanier
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