Ein Jahr in Andalusien
Umsatzsteuererklärung steht an, zu einem denkbar unpassenden Zeitpunkt. Jeder Tag scheint den vorangegangenen mit neuen Rekordtemperaturen
überbieten zu wollen, in unserer Wohnung hat es vierzig Grad, eine Klimaanlage existiert nicht, nur ein kleiner Ventilator gibt sein Bestes, um das
Gefühl von Kühle zu schaffen.
Endlich kann ich Jaime verstehen, der im Winter nur den Kopf geschüttelt hat, wenn ich wieder einmal über die Kälte in der Wohnung gestöhnt
habe. „Warte nur ab, bis der Sommer kommt, da wirst du dich noch nach der Kälte sehnen“, erklärte er zu meinem Unverständnis. Doch jetzt sitze ich an
meinem Schreibtisch und wünsche mir einen Moment lang nichts sehnlicher als die kühle Jahreszeit zurück – zumindest, bis ich die Steuererklärung
gemacht habe. Doch es bleibt heiß, mein Kopf bleibt schwer; und die Gedanken fließen so zäh, als wären sie aus Honig. Aber ich habe keine andere
Wahl.
Alle drei Monate muss ich als Selbstständige die Mehrwertsteuer und die Gewinnsteuer ans Finanzamt abführen, und genau jetzt, mitten im andalusischen
Hochsommer, ist es wieder so weit. Vor mir stapeln sich zwei Haufen Rechnungen, einer mit Ausgaben, einer mit Einnahmen. Widerwillig klappe ich den
Laptop auf und öffne ein neues Excel-Dokument. In Zeitlupe beginne ich die Zahlen einzutragen, der Stapel Rechnungen wird nicht kleiner. Schweißtropfen
rinnen meine Schläfe herab, der letzte Rest Konzentration scheint zu schmelzen. Ich bin heilfroh, als dieKirchturmglocken gleich
hinter unserer Wohnung endlich zwei Uhr mittags schlagen. Jaime muss jeden Moment kommen, wir sind zum Essen verabredet. Er wird mich aus der Hölle
befreien.
„Wie kannst du bei den Temperaturen arbeiten? Ich kann keinen klaren Gedanken fassen“, begrüße ich ihn mit matter Stimme, kaum hat er die Haustür
aufgeschlossen. „Da gewöhnst du doch schon noch dran“, sagt er. „Es ist jeden Sommer das gleiche Spiel: Du denkst, höher können die Temperaturen nicht
steigen, und am nächsten Tag beweist dir das Thermometer das Gegenteil. Ich werde erst einmal eine kalte Dusche nehmen.“
Um die Zeit totzuschlagen – die Steuererklärung schiebe ich weiter vor mir her – öffne ich wieder einmal meine Mailbox. Ob Post eingegangen ist?
Jedes Mal ist das eine aufregende Angelegenheit, denn auf die Ergebnisse meiner Telefonaktion warte ich immer noch. Tatsächlich, mein Postfach
blinkt. Als ich den Absender sehe, beginnt mein Herz höher zu schlagen. Die Lethargie, die ich gerade noch wegen der Hitze verspürt habe, ist verflogen,
meine Lebensgeister sind erwacht. Denn als Absender firmiert ein Reiseführerverlag, dem ich einen Vorschlag für einen Wanderführer über Andalusien
geschickt habe. Ganz feucht sind meine Handflächen, als ich die E-Mail öffne. „Vielen Dank für Ihren Vorschlag, wir würden Sie sehr gern in den Kreis
unserer Wanderführerautoren aufnehmen …“ Ich stoße einen Jubelschrei aus. Es ist eine lange E-Mail, den Rest überfliege ich nur. Dort steht, dass ich
eine Probewanderung und ein Konzept für das Buch einreichen muss, um die Zusammenarbeit zu besiegeln. Mit einem breiten Grinsen gehe ich ins Bad, um
Jaime von der frohen Botschaft zu berichten. „Enhorabuena – Herzlichen Glückwunsch“, sagt er und strahlt. „Siehst du, das klappt schon alles!“ Er
richtet den kalten Wasserstrahl auf mich und eine wilde Wasserschlacht beginnt.Trotz der hohen Temperaturen verlassen wir die Wohnung
eng umschlungen. „Ich werde dich zu einem ganz besonderen Lokal bringen“, sagt er und setzt seine Vespa in Gang. Der Fahrtwind bringt keine Kühlung,
sondern fühlt sich an, als würde jemand einen riesigen Föhn auf uns richten. Jaime hält vor der Markthalle des Viertels El Perchel. Es gehört zu den
ältesten Teilen der Stadt, in dem allerdings heute bis auf zwei Straßen und die Markthalle nicht mehr viel von der alten Architektur übrig geblieben
ist. Jaime macht Anstalten, in den alten Markt zu gehen. Verwundert folge ich ihm, normalerweise machen die Stände um zwei Uhr mittags zu. Doch als wir
den überdachten Mercado betreten, merke ich schnell, dass Jaime nicht vorhat, die Zutaten für unser Mittagessen zu kaufen. In einer Ecke des Marktes
gibt es kleines Lokal, kaum größer als die Obst-, Gemüse-, Fisch- und Fleischstände. Ein paar Barhocker reihen sich vor einer Theke auf, zwei gepflegte,
ältere Herren sitzen dort schon, sie diskutieren lauthals in unverständlichem Andalusisch und vertilgen
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