Ein Jahr in London
gutverdienender Informatikprofessor in einer Hausgemeinschaft wie dieser verloren hat, aber dann fällt mir ein, dass es sich schließlich auch bei Yitkee, Felice und mir keineswegs um arme Studenten handelt.
James nickt still.
„Aber jetzt erzähl mal von dir“, fordert mich Elli auf. „Wie gefällt es dir hier? Hast du schon jemanden Nettes kennengelernt, seitdem du in London angekommen bist?“
Ich schüttele den Kopf und mir fällt plötzlich Jake, der Barmann, ein. Ich werde ihn nachher anrufen, nehme ich mir fest vor.
Elli erkundigt sich nach meiner Herkunft und fragt dann, wie so viele ihrer Landsleute es später tun werden: „Und warum um alles in der Welt wolltest du aus Deutschland wegziehen? Nach England?“ Ich antworte, dass ich die englische Angewohnheit, sich selbst auf die Schippe zu nehmen und seine eigenen Verdienste herunterzuspielen, sehr anziehend finde. Und auch sonst ist London ja gar nicht so übel.
„Ja, aber wie findest du England wirklich ? Sei ehrlich. Ich selber würde nichts lieber tun, als morgen nach Spanien auszuwandern“, meint Elli.
„Spanien ist für Rentner“, fällt Nick ihr ins Wort. „Wenn man etwas vom Leben sehen will, muss man nach London kommen. Wenn man Ruhe will, verzieht man sich auf die Hampstead Heath, wenn einem nach Abenteuern zu Mute ist, fährt man nach Soho. Und wenn man schließlich von Soho genug hat, nimmt man die Tube nach Bethnal Green, und es ist, als wäre man auf einem anderen Kontinent gelandet. Selbst die Straßenschilder sind in einer fremden Sprache. In welcher anderen Stadt ist das schon möglich?!“
Selbst James erwacht für einen Moment zum Leben und stimmt zu: „Wo sonst hat man schon jeden Abend die Auswahl zwischen dreißig verschiedenen Theaterstücken, zig Konzerten und unendlich vielen Filmen? Es gibt schon einen Grund, weshalb halb Australien hierher gezogen ist.“
„Und wo sonst“, fügt Felice hinzu, „sitzen Leute aus sechs verschiedenen Ländern zufällig bei Kerzenlicht zusammen und unterhalten sich so gut, eh? Das müssen wir feiern!“ Er öffnet eine weitere Flasche besten sizilianischen Weines und wir stoßen im Halbdunkel an. Als nach einer guten Stunde das Licht nach einem kleinen Knacken plötzlich wieder angeht, bin ich fast ein bisschen enttäuscht.
Zurück auf meinem Zimmer entschließe ich mich, jetzt endlich bei Jake anzurufen. Ich bin so nervös, dass ich zweimal wieder auflege. Doch irgendwann reiße ich mich dann doch zusammen und lasse es klingeln. Und klingeln. Niemand meldet sich, nicht mal ein Anrufbeantworter. Ich werde es morgen noch einmal versuchen.
Doch am nächsten Abend bin ich bei meiner Kollegin Maddie eingeladen, und als ich mit dem Nachtbus nach Hause fahre, ist es schon zu spät, es noch einmal zu versuchen. Um genau halb eins stecke ich meinen Schlüssel in die Haustür und betrete so leise wie möglich den Flur. Es ist ein ganznormaler Wochentag, aber in mehreren Zimmern ist noch Licht an. Bei Felice steht die Tür halb offen und ich schaue vorsichtig um die Ecke.
„Schläfst du noch nicht?“
„Ah, Anna!“, ruft Felice erfreut. „Komm rein, willst du was essen?“
Ich verneine, und schaue mich erstaunt in seinem Zimmer um. Der Boden ist bedeckt mit dampfenden Töpfen, Schalen, die mit heißem Wasser gefüllt sind, und daneben einige Tüten von halbaufgetautem Gemüse und ein paar Pizzas.
„Hast du eine Party gefeiert?“, frage ich ihn zweifelnd.
„Ich enteise das Gefrierfach. Es ist so vereist, dass nichts mehr reinpasst.“
„Mitten in der Nacht?“, frage ich verblüfft.
„Tagsüber muss ich ja arbeiten.“ Felice stellt den Wasserkocher an, um mir eine Tasse Tee zu kochen. Er erzählt mir, dass er in der ganzen Woche nur zwei Jacken und ein paar Hemden verkauft hat und jetzt jeden Tag ein paar Extrastunden einlegen muss. Deshalb hat er tagsüber nicht viel Zeit für Haushaltssorgen, außerdem mache das Ganze in der Nacht mit einem Glas Wein in der Hand sowieso mehr Spaß. Wir hören, wie jemand auf dem Weg zur Toilette vorbeistolpert.
„Pronto?“, ruft Felice, und Yitkee steckt den Kopf um die Ecke.
„Ah, ihr schlaft auch noch nicht? Musst du denn morgen nicht arbeiten, Anna?“
„Doch, und du?“
„Ja, aber ich warte gerade noch auf einen Anruf von meiner Schwester aus Singapur. Sie hat gesagt, sie würde mich um zwei Uhr anrufen.“
Und tatsächlich, ein paar Minuten später klingelt das Münztelefon im Flur und Yitkee macht es sich zu einem späten
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