Ein Jahr in London
von einer offensichtlich schwer kurzsichtigen Verkäuferin bedient werde.
„ Are you over 21, love ?“
„So gerade eben“, ist meine Antwort, und zu meinem Verdruss glaubt sie mir das gleich, was mir jegliche Hoffnung nimmt, sie hätte mich tatsächlich für so jugendlich und damit zum Alkoholkonsum unbefugt gehalten.
„Die Mode heutzutage macht es einem wirklich schwer, zu beurteilen, ob jemand zwanzig oder dreißig ist, da frage ich lieber noch mal nach.“
Und tatsächlich sehe ich um mich herum mehrere Mädchen, die Dank des Make-ups und ihrer Kleidung zehn Jahre älter sein könnten. Während ich, ungeschminkt und in Jeans, wohl eher einer tollpatschigen Jugendlichen ähnle. Trotzdem fühle ich mich geschmeichelt.
Mit einem netten „Have a nice day, love!“ werde ich verabschiedet und ich mache mich auf den Heimweg. Da höre ich plötzlich eine Stimme, die meinen Namen ruft. Ich drehe mich um, erkenne erst kein bekanntes Gesicht, bis mir ein winkender Mann mit kurzgeschorenen Haaren auffällt.
„Do you remember me?“
Es ist niemand anderes als Jake, mein Barmann.
„Hast du dich gut eingelebt? Ich sehe, es hat dich also nicht in den tiefen Londoner Süden verschlagen!“
„Nein, wir sind weiterhin Nachbarn!“
Ich erzähle ihm von meiner Wohnung, meinen netten Mitbewohnern, meinem nicht ganz so netten Job und wie froh ich bin, ihn wiederzusehen.
„Und warum hast du mich dann nie in meinem Pub besucht? Jeden Abend habe ich darauf gehofft, dass mal wiedereine unwissende Deutsche ein Pint Baileys bestellt, aber es kam niemand.“
Dabei lächelt er so nett und überzeugend, dass ich fast glaube, er meine es auch.
„Ich habe mal versucht, dich anzurufen, und eine Nachricht zu hinterlassen“, sage ich, verschweigend, dass „mal“ in diesem Fall „zwanzig Mal“ bedeutet.
„Ah, shit“ , sagt er, „mein Handy ist mir vor einigen Wochen gestohlen worden, sonst hätte ich mich natürlich gemeldet!“ Ich bin nicht sicher, ob ich ihm glauben soll, halte es eher für unwahrscheinlich, aber schön ist der Gedanke trotzdem.
„Aber das Schicksal hat uns ja glücklicherweise trotzdem wieder zusammengeführt. Kann ich dich auf ein Frühstück einladen?“ Mir ist zwar vor Aufregung jeglicher Appetit vergangen, aber die Aussicht, sich noch nicht verabschieden zu müssen, ist zu gut, um nein zu sagen.
Wir setzen uns also in den McDonald’s-Abklatsch von einem Café, der zu jedem größeren englischen Supermarkt dazugehört, und bestellen ein full English breakfast and a cup of tea.
„Very romantic, eh?“ , bemerkt Jake und zeigt auf die rosafarbenen Papierservietten, die in einem eleganten Plastikhalter stecken. Daneben einige laminierte Werbeblättchen: „ Two for One! Kaufen Sie einen Sonntagsbraten, und bekommen Sie einen weiteren ganz umsonst! Nur hier in unserem Morrisons -Café!“ Neben uns kreischt ein Baby und zwei Kinder jagen einander durch die Stuhlreihen.
„Kannst du dir vorstellen, deine Familie hierher zum Sonntagsessen zu bringen?“, frage ich Jake amüsiert.
„Oh, für meine Mutter wäre es wahrscheinlich der Höhepunkt ihrer Woche! Dann kann sie sich noch während des Essens nach Schnäppchen umsehen.“
„Weißt du was“, lächle ich ihn an, „ich bin ja jetzt doch schon eine ganze Weile in London, aber nach all diesen Wochen hier bist du immer noch der einzige waschechte Londoner, den ich getroffen habe.“
„Na ja, waschecht bin ich ehrlich gesagt auch nicht. Nur wer in Hörweite der Kirchenglocken von Bow geboren ist, darf sich einen echten Cockney nennen.“
„Bow? Im Osten Londons?“
„Bei starkem Ostwind kann man die Glocken vielleicht sogar manchmal bis Highgate hören, wer weiß. Ich bin also ein potentieller waschechter Londoner.“
„Das reicht ja auch! Immerhin etwas.“
Nachdem wir unser Frühstück beendet haben, greift Jake nach seinen Tüten.
„Ich sollte besser gehen, um zwölf Uhr fängt meine nächste Schicht an.“
„Was machst du eigentlich hier? Du wohnst doch in Highgate, oder?“, frage ich dann.
„Ich habe nur eine alte Freundin besucht“, antwortet er, umarmt mich kurz zum Abschied und schon ist er auf der anderen Straßenseite.
„Diesmal kommst du aber wirklich mal in meinem Pub vorbei, ja?!“, ruft er mir dann von der gegenüberliegenden Straßenseite aus hinterher und zwinkert mir zu. Ich habe noch nicht mal nach seiner neuen Handynummer gefragt.
Wieder zu Hause schließe ich meine Tür auf, lasse meine
Weitere Kostenlose Bücher