Ein Jahr in London
Einkaufstüten fallen, um so schnell wie möglich zum Fenster zu gelangen, und reiße es auf. Es ist brütend heiß. Dann schreie ich auf.
Es bewegt sich etwas in der Ecke meines Zimmers! Es dauert ein paar Sekunden, bis sich meine Augen nach der grellen Sonne draußen an das Halbdunkel im Zimmer gewöhnt haben. In meinem Ohrensessel sitzt eine dunkle Gestalt, deren Umrisse ich nur eben so erkenne. Ich erstarre vor Angst. Hatte ich denn nicht abgeschlossen? Doch, das hatte ich bestimmt.
„Keine Panik, ich bin’s nur.“
Ich erkenne die Stimme von Barry, meinem Vermieter, und mache das Licht an. Er sitzt eine Pfeife rauchend in meinem Ohrensessel. Ich bin so überrascht, dass ich wortlos mitten imZimmer stehen bleibe und gar nicht reagiere. Barry schüttelt einen großen, grauen Beutel, der bei jeder Bewegung laut klirrt, vor sich hin und her.
„Ich habe nur eben das Geld aus dem elektrischen meter geleert.“
„Oh, sorry, ich dachte schon, du wärst ein Einbrecher. Tut mir leid.“
Daraufhin ärgere ich mich über mich selber. Jetzt habe ich schon selbst die englische Sitte angenommen, sich für alles und jeden zu entschuldigen, ganz besonders dann, wenn ich völlig schuldlos bin. Allerdings bedeutet das englische „sorry“ auch nicht immer gleich „Tut mir leid“, sondern heißt oft so viel wie „Was soll denn das?“. In diesem Fall möchte ich wissen, warum um alles in der Welt mein Vermieter ohne Einladung Pfeife rauchend in meinem Zimmer sitzt.
„Schon gut. I’m sorry, too . Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.“
Und daraufhin steht er auf, bläst noch ein kleines Rauchwölkchen in Richtung Fenster und verschwindet dann ohne weitere Erklärung. Mein Herz klopft immer noch und der Pfeifengeruch hängt für die nächste Stunde in der Luft.
Oktober
Ich bin seit neuestem nun nicht mehr einen Meter achtundsiebzig groß, sondern ganze fünf Füße und elf Inches. Anstatt 64 Kilo (wenn die Waage auf dem unebenen Badezimmerboden günstig steht) wiege ich plötzlich zehneinhalb Steine, Hinkelsteine wohl, und meine Füße brauchen nur noch eine zierlich anmutende Größe 7 anstatt einer kolossalen 41. Alles in allem gefallen mir die englischen Größenmaße.
Doch die eigenwilligen Verkehrsregeln machen mir zu schaffen. Das wird mir erst so richtig bewusst, als die U-Bahn mir mal wieder übel mitspielt und ich mich nach einem Alternativ-Transport umschauen muss. Ohne die Tube , also die Londoner U-Bahn, geht in London gar nichts. Die Tube ist die älteste U-Bahn der Welt und jedes Jahr nutzen etwa 815 Millionen Menschen die so genannte „Röhre“. Der Hauptteil der Belastung fällt dabei auf die Rush-Hour, die Berufsverkehrzeit.
Zwischen sieben und neun Uhr morgens wiederholt sich das gleiche Schauspiel in jeder Station der Stadt: Hunderte Menschen drängen sich in überfüllte Züge hinein, hängen mit letzter Kraft an Haltestangen und entschuldigen sich ununterbrochen bei den anderen Passagieren, denen sie gerade zum dritten Mal auf den Fuß getreten sind. Und versuchen dabei trotz allem, die Schlagzeilen des Gratis-Blattes „Metro“ zu lesen, wobei das Umschlagen der Seiten in einem so engen Raum eine ganz besondere Finesse erfordert.
Ich laufe an diesem Morgen wie immer um sieben Uhr die Treppe hinunter zu meiner sich bereits füllenden Heimatstation Chalk Farm und gehe dann den Bahnsteig entlang und versuche, den Platz zu finden, wo die wenigsten Leute warten. Während es draußen am frühen Morgen jetzt schonempfindlich kalt ist, bleibt die Luft in der Tube den ganzen Winter hindurch warm und drückend. Der leichte Schwefelgeruch vermischt sich mit dem Modergeruch der alternden Tunnel zu einer in der Welt einmaligen Duftnote. Ich atme tief durch und warte an der Stelle, an der, so weiß ich nach vielen Experimenten, die Türen der U-Bahn sich öffnen werden und ich wenigstens einen Stehplatz in der Nähe einer Haltestange erkämpfen kann, anstatt in der Mitte des Ganges ohne jeglichen Halt herumgeschleudert zu werden.
Und tatsächlich habe ich Glück an diesem Morgen und quetsche mich schnell genug in das Abteil hinein, um den letzten noch freien Sitzplatz zu ergattern. Das Triumphgefühl nach diesem vielversprechenden Start in den Tag ist so groß, dass mir auch der Gestank des Cheeseburgers, den meine Sitznachbarin schon zu dieser frühen Stunde vertilgt, nichts anhaben kann. Ich lehne mich zurück und schaue mich in dem Abteil um: Allein in meinem Blickfeld gibt es ein größeres
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