Ein Jahr in London
Pläuschchen auf den Treppenstufen bequem. Ich überlege, ob nicht auch ich heute Nacht noch etwas Nützliches machen könnte, anstatt einfach so schlafen zu gehen. Vielleicht sollteich ein bisschen staubsaugen. Im Hinterkopf höre ich die Stimme meiner Mutter: „So was macht man doch nicht!“
Das würde sie wohl auch sagen, wenn sie mich am kommenden Sonntagmorgen beim Einkaufen im Supermarkt um die Ecke gehen sähe. Von Sonntagsruhe kann hier nicht die Rede sein – mein Morrisons ist rund um die Uhr auf, sieben Tage die Woche, bis auf Christmas Day alle Tage im Jahr. Als ich kurz vor Mittag meinen Einkaufswagen durch die nicht enden wollenden Reihen von Regalen schiebe, ist es brechend voll, denn die ganze Stadt scheint schnell noch Zutaten für den Sonntagsbraten besorgen zu müssen.
Von den im Supermarkt angebotenen Produkten kann man viel über die Bevölkerung einer bestimmten Gegend Londons ablesen. Bestimmte exotische Gemüse wie zum Beispiel das asiatische „Pak Choi“ findet man hauptsächlich in Vierteln mit einer zahlreichen chinesischen Bevölkerung wie Soho, koschere Produkte gibt es dagegen in großer Auswahl in Golders Green, dem Zentrum der jüdischen Gemeinde in London. Oder in Multikulti-Bezirken wie meinem heimatlichen Primrose Hill. Der Schicht „posh“, also reich und vornehm, scheinen hier allerdings auch viele Menschen zugehörig zu sein, denn neben dem üblichem Toastbrot gibt es sogar original deutsches Schwarzbrot, in Plastik verpackt, aber garantiert ohne Zusatzstoffe. Und so gesund isst hier nur der reichere Mittelstand. Elli, eher der Arbeiterklasse zugehörig, ekelt sich vor dem „black stuff“, dem „schwarzen Zeug“, das ich so gerne verzehre.
„Wie man so was essen kann, ist mir ein Rätsel“, sagt sie naserümpfend, während sie sich eine dünne Schicht Marmite, eine übelriechende Hefepastete, auf ihr labbriges Weißbrot streicht.
„Besser als dein Marmite schmeckt es allemal.“
„On this matter, we have to agree to disagree“ , wendet Elli diplomatisch ein.
Ich schiebe meinen Wagen unermüdlich die fast zwanzig Regalreihen entlang und rechne aus, dass mein sonntäglicherEinkauf wohl in etwa einer vier Kilometer weiten Wanderung entsprechen müsste und ungefähr so viele Kalorien verbrennen müsste wie ein halbstündiger Fitnesscenter-Besuch – besonders als mir bei der Käse-Theke einfällt, dass ich die Eier am anderen Ende des Ladens vergessen habe. Also nehme ich noch einmal den Hindernislauf von Regal 20 bis Regal 1 in Angriff und kurve mit Schwung um die anderen Einkaufswagen, die natürlich alle in die falsche Richtung wollen. Ich zähle die Anzahl von „sorrys“, die ich für meine verfehlten Umgehungsmanöver einkassiere. Als ich endlich wieder beim Eierregal ankomme, sind es stolze sieben.
Die besondere Vorliebe der Briten für das Schlangestehen ist allgemein bekannt, aber in Supermärkten übertreffen sie sich noch einmal selbst. Vor dem Einreihen heißt es, sich entscheiden, in welche der zwanzig Schlangen man gehört: In meinem Morrisons gibt es unter anderem spezielle Schlangen für Leute mit fünf oder weniger Produkten, mit zehn oder weniger Produkten, mit einem Einkaufskorb oder mit einem Einkaufswagen.
Heute habe ich mich in der Einkaufswagen-Schlange angestellt und werde schließlich von der Kassiererin mit einem freundlichen „Hello, how are you?“ begrüßt. „Regnet es schon?“ Ich schaue sie verblüfft an. Draußen ist kein Wölkchen zu sehen.
„Soll es denn heute regnen?“
„Irgendwann fängt es immer an“, entgegnet sie geheimnisvoll. „Deshalb bin ich froh, heute arbeiten zu müssen.“
Ich nehme die fünf Plastiktüten entgegen, die die Verkäuferin mir unaufgefordert entgegenhält. Bei meinen ersten Einkäufen habe ich noch den Fehler gemacht, meine eigenen Stofftaschen mit zum Einkaufen zu bringen, was mir jedoch so merkwürdige Blicke der anderen Einkäufer einbrachte, dass ich mir diese Unart nun abgewöhnt habe. Ich fange also an, meinen Einkauf in die Plastiktüten zu packen, als mir jemand plötzlich meinen Milchkarton unter den Augen wegschnappt.
„Finger weg!“, rufe ich, doch es handelt sich nur um denPackjungen, der mir zu Hilfe geeilt ist und Tüte um Tüte an Waren für mich in den Einkaufswagen verlädt.
Dann, als meine Weinflasche langsam auf dem Fließband auf die Kassiererin zurollt, folgt meine Lieblingsfrage, die mir nur an besonderen Glückstagen wie dem heutigen gestellt wird, an dem ich
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