Ein Jahr in New York
Berufung. Aufrecht wie eine Lanze schritt sie Tag für Tag mit vorgeschobener Hüfte durchs Büro. Es gab Momente, in denen ich mir nicht ganz sicher war, ob ich Teile eines einstudierten Monologes zu hören bekam oder meine Freundin Vanessa. Aber ich konnte sie alles fragen, und sie hatte immer eine Antwort. „Sag einfach: ‚Not much. What’s up with you?‘“, entgegnete sie. Und dann, was sollte man darauf antworten?
Die Amerikaner meinen nicht immer, was sie sagen. Das war sehr gewöhnungsbedürftig und führte oft zuMissverständnissen. Nach „I’ll call you later“ hatte ich oft vergebens auf einen Rückruf gewartet. „Later“, so dachte ich, bedeutet „noch am gleichen Tag“. Stattdessen übersetzte Vanessa mir diese Floskel mit: „Bis irgendwann dann mal.“ Amerikaner wollen immer höflich sein, und Ehrlichkeit ist leider oft das Gegenteil. Eine Kommunikationsfalle, in die ich als Deutsche ziemlich häufig tappte.
Aber diese oberflächliche Nettigkeit war auch eine willkommene Hilfestellung. Denn ob dieser fremde Geburtstags-Richard sich nun tatsächlich über meine Anwesenheit freute oder nicht – who cares?! Allein die Aussage erfüllte ihren Zweck. Ich fühlte mich eingeladen.
„Hast du eine Idee, was ich ihm schenken könnte?“, fragte ich Miriam, als wir im Gitane saßen. „Nichts, komm einfach“, antwortete Miriam, „da hier fast niemand zuhause feiert, trifft man sich in einem Restaurant oder einer Bar, und die Rechnung geht auf die Freunde, das ist Geschenk genug.“
„Würde man zuhause feiern, könnten sich die meisten mit ihren winzigen Wohnungen kaum mehr als fünf Freunde leisten“, fügte sie lachend hinzu. Kaum hatte ich den letzten Bissen runtergeschluckt, wurde auch schon mein Teller abgeräumt. Und das, obwohl Miriam noch gar nicht fertig war. Ich sagte nichts. Aber der Kellner in mir, der in Hamburg gelegentlich im Gourmet-Bistro Vienna gearbeitet hatte, war etwas empört. Doch daran musste ich mich gewöhnen. Andere Länder, andere Tischmanieren. Miriam hatte gerade ihr Besteck auf den leeren Teller gelegt, als sich die Kellnerin in ihrem blauen Kittelkleid von uns bestätigen ließ, dass wir nichts mehr bestellen möchten, und im gleichen Atemzug die Rechnung auf dem Tisch parkte. Als ich in meine Tasche nach meinem Portemonnaie griff,winkte Miriam ab. „Das heißt nicht, dass wir sofort bezahlen und aufstehen müssen. Trink erst mal entspannt deinen Wein aus“, sagte sie. Das tat ich dann auch, aber dachte trotzdem still: „Was für eine miese Abwimmelmethode.“ Die, so sollte ich bald herausfinden, war hier Programm.
„See you on Saturday!“, rief Miriam mir zum Abschied hinterher. Ich lief zur U-Bahn und musste in der Station eine lange Weile auf den Zug warten. „Da lebe ich schon in Manhattan und führe trotzdem das Leben eines Pendlers“, seufzte ich vor mich hin. Gott sei Dank fuhren die U-Bahnen wenigstens die ganze Nacht. Sonst hätte ich schon ein Vermögen für Taxifahrten ausgegeben. Es war kurz nach Mitternacht, als ich aus dem Zug stieg. Ich war fast 45 Minuten unterwegs. In SoHo wimmelte es noch von Menschen, in Harlem war weit und breit niemand auf der Straße zu sehen. Außer der Obdachlose, der hier anscheinend wohnte, seit er letzte Woche seine ziemlich ramponierte Strandliege auf dem Bürgersteig positioniert hatte. Gleich neben Burger King. Meistens schlief er schon, wenn ich auf dem Nachhauseweg an ihm vorbeilief.
Die Ladenschaufenster waren von schweren eisernen Rollläden verbarrikadiert und boten ein ziemlich tristes Bild. Mein eigener Schritt hallte mir entgegen, als ich die Zugbrücke unterquerte. Nur noch zwei Blöcke. Zwar hatte ich bisher keine einzige schlechte Erfahrung gemacht, aber etwas unheimlich war das schon. Es wurde höchste Zeit umzuziehen. Und einen Mitbewohner hätte ich mittlerweile auch gerne, dachte ich, als ich die Treppen hochstieg und mir einsam die Musik im Hausflur entgegendudelte. Ich hatte keine Ahnung, neben wem ich hier eigentlich wohnte. Wie immer steckte ich den Schlüssel in die Wohnungstür und drehte nach rechts. Wie immer funktionierte esnicht. Dass sich die Schlösser in Amerika mit einem Dreh nach links öffnen lassen, war für mich noch immer verkehrte Welt und entbehrte meiner deutschen Logik. Und dass selbst ein banales Türschloss immer wieder darauf hinwies, dass ich hier nicht zuhause war, hatte etwas Metaphorisches. War ich erst angekommen, wenn ich meine Wohnungstür ohne
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