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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Sieger
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nichts anderes tut, als den ganzen Tag zu essen, hätte ich mir das Frühstück ganz sicher gespart. Kaum stand ich in der Tür, hatte ich schon einen Prosecco in der Hand und einen mit Schafkäse überbackenen Champignon im Mund, während der Gastgeber Justin mit dem Shrimpscocktail auf mich zueilte und schrie: „Den musst du unbedingt sofort probieren!“ Als Noelle den Ofen öffnete, um mir stolz den Truthahn zu präsentieren, musste ich ernsthaft staunen. Neben diesem Viech sah jedes deutsche Hähnchen aus wie ein schmächtiges Küken.
    Am frühen Nachmittag hatte ich schon einen ordentlichen Schwips trotz der soliden Grundlage, bestehend aus allerhand liebevoll zubereiteten Amuse-Geule, die in regelmäßigen Abständen aus der Küche direkt in meinen Mund getragen wurden. „Ich kann nicht mehr, Noelle“, versuchte ich diese Völlerei zu stoppen, und mir wurde fast ein bisschen schlecht, als ich an den „Pumpkin Pie“ (würziger Kürbiskuchen) dachte, den ich zum Dessert mitgebracht hatte. Keine Chance. Probieren war Pflicht. Um sechs Uhr stand dampfend der Truthahn auf dem Tisch, umgeben von etlichen Schüsseln mit den üppigen Thanksgiving-Beilagen. Mein Magen hatte sich bis dahin erstaunlicherweise an die ununterbrochene Nahrungsmittelzufuhr gewöhnt, und selbst der Pumpkin Pie passte noch rein. Danach war ich so satt wie noch nie in meinem ganzen Leben zuvor. Wir saßen mit zehn Leuten an einer festlich gedeckten Tafel, und auch wenn ich kaum jemanden kannte, fühlte ich mich das erste Mal in New York so richtig zuhause. Noelle bat alle Anwesenden der Reihe nach vorzutragen, wofür sie dankbar waren. Ganz nach Tradition. Das fand ich unglaublich schön und überlegte gleich, wie man diesen Tagnach Deutschland importieren könnte. Als ich an der Reihe war, musste ich keine Sekunde überlegen. Ich wusste haargenau, wofür ich mich in diesem Moment bedanken wollte.

Dezember
    D AS T EMPO DER S TADT hatte mich eingeholt. Im Aufzug auf dem Weg in mein Büro im 26. Stock merkte ich plötzlich, dass ich ganz ungeduldig wurde, sobald mehr als vier Leute zustiegen. Und das passierte ziemlich häufig. Ich ertappte mich dabei, wie ich leicht genervt dachte: „Ach Gott, die wollen bestimmt alle vorm 26. aussteigen.“ Wenn ich Leute aus der Lobby auf die noch geöffnete Tür zueilen sah, hoffte ich manchmal sogar, dass die sich rechtzeitig schloss. Natürlich war das vollkommen unsozial, und noch im gleichen Augenblick hatte ich ein schlechtes Gewissen. Diese minimale Verzögerung von zehn Sekunden pro Stopp machte wirklich keinen Unterschied. Vor allem nicht, wenn ich, wie so oft, zuhause getrödelt hatte und sowieso schon dementsprechend spät dran war. Dennoch fühlte ich mich ausgebremst. Der New Yorker Geschwindigkeitsvirus hatte mich also endlich erwischt und mich ganz nebenbei meiner Geduld beraubt.
    Noch vor wenigen Wochen hatte ich über die permanent hetzenden Menschen in dieser Stadt verständnislos den Kopf geschüttelt. Diese Leute, die sich von nichts bremsen lassen und auch bei Rot konsequent über die Ampel rennen. Alle, selbst die Verkehrspolizisten. Auch vor Kinderaugen wird nicht Halt gemacht. Die werden einfach mit rübergezerrt. „Jaywalking“ nennt man das, und es ist in New York genauso wie in Deutschland ein Verkehrsdelikt. Der Unterschied ist, dass man hier keine fünfzig Euroloswird, sondern, sobald man auch nur einen Moment zögert, genervt überholt wird. Letztendlich treibt einen der Sog Menschen sowieso mit auf die andere Straßenseite. Das sieht so aus: Ein Haufen Leute sammelt sich an der Kreuzung, die Ampel zeigt Rot. Ungeduldig drängeln sich alle so weit auf die Straße, wie es eben geht. Wenn das letzte Auto vorbeigerauscht ist, bricht diese aufgestaute Flutwelle einfach los, ohne überhaupt noch einmal auf die Ampel zu schauen. Dass noch längst nicht Grün ist, interessiert niemanden. Jede Sekunde zählt.
    Noelle zum Beispiel rannte jedes Mal, wenn wir in der U-Bahn die Treppen herunterkamen, zwanghaft umgehend in die eine oder die andere Richtung, statt einfach an Ort und Stelle auf den Zug zu warten. „Warum bleiben wir nicht hier stehen?“, fragte ich sie. „Weil wir an der West 4 th vorne aussteigen müssen, damit wir gleich die Treppe hoch zum richtigen Ausgang kommen“, antwortete Noelle, als wäre dieser Zeitvorsprung überlebensnotwendig. Diese Minute Unterschied ist doch völlig wurscht, dachte ich noch vor wenigen Wochen und war von Noelles angestrengter

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