Ein Jahr in Stockholm
zahlreiche Stockholmer, die hier wochenlang Ferien machen.
Über die schmalen Kieswege suchen wir uns den Weg dorthin. Vor zueinandergebeugten Holzhütten, die zwischen Obstbäumen und Gemüsebeeten stehen, schnalzen schwedische Flaggen im Wind. Uns begegnen Spaziergänger, die sich zu kennen scheinen und uns genauso herzlich grüßen. Von wegen Schärenbewohner seien schrullig und wortkarg, wie immer wieder vom Festland kolportiert wird. Zu dieser persönlichen Atmosphäre und dem Zusammengehörigkeitsgefühl gesellt sich mein Eindruck, dass alle Hiesigen und Besucher, die vor den Fischlokalen in der Sonne sitzen, nicht gerade arme Schlucker sind. Und ich könnte wetten, sie schließen ihre Häuser trotzdem nicht ab.
Wir lassen uns in den Mulden der steilen Felsen nieder, trinken Bier, essen die eingepackten Brote und hartgekochten Eier. Was für ein grandioser Blick hinunter aufs Wasser, auf dem sich ein bunter Strudel aus Segeln dreht. Ich drücke mich in den unebenen, ausgehöhlten Fels, was sich anfühlt, als massierten erwärmte Basaltsteine meinen Rücken. Während Lars nahe dem Kiefernwald unser Zelt aufbaut, kann ich vor lauter Entspannung einfach nicht aufstehen und helfen – ich besinne mich weiter aufs Wasser, das zwanzig Meter unter mir glucksend gegen die Klippen schlägt.
Einige Surfrunden, einen Badegang, drei Postkarten und ein paar am Lagerfeuer gegrillte Würstchen später ist es vorbei mit der Ruhe. Ein schweres Gewitter ist aufgezogen. Es ist früher Nachmittag, und wir sind gerade auf dem Weg voneinem abgelegenen Seemannsfriedhof zurück zum Zelt. Der Regen wird immer fürchterlicher. Vom Berg rutschen uns Schlammladungen entgegen. Ich sehe an mir hinunter und denke an Astrid Lindgrens kleine Lotta aus der Krachmacherstraße, die bei Regen im Dung stand und wachsen wollte.
Als wir endlich die glitschigen Felsblöcke erklommen haben, wartet sumpfiges Gebiet auf uns. Das Zelt steht in zäher brauner Brühe, die sich auch schon ins Innere vorgearbeitet hat. Sogar zur Decke läuft Wasser herein. Den Rest besorgen wir mit unserer triefnassen Kleidung und den vollgesogenen Haaren. Die vielen Picknicker und Camper von vorhin haben offenbar rechtzeitig die Biege gemacht.
„Da wäre dir meine neue Wohnung jetzt lieber, oder?“ Lars nimmt’s locker. Mein Humor und meine Gelassenheit halten sich allerdings in Grenzen, wenn ich darauf warte, dass uns die tosende Ostsee mit Windstärke acht vom Felsen spült. Ich kann weder Angst noch Temperament bändigen, und so beginnt auch im Zweimannzelt langsam das Donnerwetter.
„Mensch, das Zelten war deine Idee! Und jetzt? Wir sollten besser bei jemandem im Garten Unterschlupf suchen“, beschließe ich und verteufle Lars dafür, dass er unser Lager so weit draußen und versteckt aufgeschlagen hat. „Jetzt hör mal! Wir sind doch keine kleinen Kinder. Am Horizont reißt es schon wieder auf. Wir müssen einfach nur abwarten.“ – „Bis dahin bin ich todkrank oder ertrunken. Euer Jedermannsrecht sagt doch, dass ich eine Nacht neben dem Haus von Privatpersonen übernachten darf. Da ist es doch viel sicherer …“ – „Du kapierst das allemansrätt nicht. Es besagt, dass wir Beeren sammeln oder unter gewissen Bedingungen Feuer machen dürfen. Zelten ist hier auf der Insel verboten. Außerdem kannst du doch nicht Leuten auf die Pelle rücken, ohne sie zu fragen.“ Lars ist fassungslos. „Ich dachte, wir genießen gemeinsam die Natur. Da gehört Regen dazu.“ – „Wirsind illegal? Ich glaub’s nicht! Und sieht das vielleicht nach Genuss aus?“ Vorwurfsvoll zeige ich auf meine suppenden Hosenbeine. „Ich will nach Hause!“ Ich fühle mich wie ein bevormundetes Kind mit Migrationshintergrund. Woher soll ich bitte wissen, wie sich das Wetter in den Schären entwickelt und weshalb Schweden mit ihrem freien Zugang zur Natur generös tun und es doch anders meinen?
Nachdem mich Lars einen Schafskopf genannt und mir die Richtlinien des Jedermannsrechts sowie die schwedische Erfindung des Reißverschlusses erklärt hat, dringt Sonne durch das tropfende Loch in der Zeltdecke. Er hatte Recht. Das Gewitter ist vorüber, alles ist gut gegangen, und ich komme mir hysterisch vor. Lars sagt nichts. Wir atmen schweigend die frische Luft, kippen das Wasser aus dem Zelt und finden in der Sonne einen härteren Untergrund, in den es nicht mehr einsinkt. Und als ich gerade mit Brotpapier und Taschentüchern den Zeltboden trockne, steckt mir der Schwede eine blasse
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