Ein Jahr in Stockholm
worüber Italiener die Nase rümpfen würden, praktizierten schon die Wikingerinnen, die als erste Frauen der Welt das Recht hatten, sich scheiden zu lassen. Elin hatte den landestypischen Rhythmus so zusammengefasst: „Mit 35 sind die meisten Schweden wieder auf dem Markt.“
Auch bei Lars war es so gewesen. Ich sage ihm, wie schön ich ihn und seine Wohnung finde, und beiße in meine bulle .
Das Geheimnis ist gelüftet. Sverker hat uns am Vorabend Ort und Zeit der Operation Sprachprüfung genannt. Und Operation ist gar nicht so weit hergeholt. Aber das ahne ich nicht, als ich mich am Nachmittag zu Fuß Richtung Vasastan aufmache, einem wohlhabenden Stadtteil im Westen mit pastellroten Bürgerhäusern. Mit wem ich in der Projektgruppe das Vergnügen habe, wollte Sverker nicht verraten.
Lasst euch vom Augenblick überrumpeln,
stand in seiner E-Mail. Er hatte also selbst noch keinen Plan, wie das Spektakel ablaufen sollte.
Es ist bewölkt und leicht windig, aber ich nutze den weiten Weg durch die Alleen, um mir die Grundbegriffe zum Thema Gesundheit in Erinnerung zu rufen. Wegen meiner medizinischen Fortbildung in den vergangenen Wochen und einer hypochondrischen Veranlagung kann ich mittlerweileso ziemlich jede Krankheit und Verletzung simulieren, von der die Welt je gehört hat. Auch Anders musste leiden, weil ich bei jeder Begegnung mit ihm die unregelmäßigen Verben gebeugt habe. Nun hoffe ich nur, dass sich die Präpositionen Mühe geben und in der Stunde nicht wieder völlig chaotisch durcheinanderpurzeln.
Es fängt bereits an zu dämmern, als ich die angesteuerte Tomtebogatan erreiche, wo dem Namen nach Wichtel und Kobolde wohnen. Ich entdecke die Hausnummer hinter einer Kastanie, in der pinkfarbene Papiervögel hängen. Die Filadelf ia -Kirche zwei Straßen weiter meldet mit ihren Glockenschlägen fyra prick , Punkt 16 Uhr. Perfekt. Plötzlich klappt es auch mit den deutschen Tugenden. Aus dem Wurzelgeflecht des Baumes greife ich mir eine Kastanie und stecke sie als Glücksbringer in die Jackentasche. Lars hatte so etwas wie „Pfeffer, Pfeffer, wirf ins Holz!“ gewünscht. Na, das passt ja.
Sverker kann hier eigentlich nicht wohnen, das hatte ich doch auf der Spionageplattform im Internet eruiert. Ich gehe zum Eingang und lese:
vårdcentral
Ein Gesundheitszentrum! Mit echten Ärzten! Ich hatte mir gedacht, dass es verrückt werden könnte, aber mit diesem Ausmaß hatte ich nicht gerechnet. In Schweden wird der Großteil der medizinischen Versorgung in Zentren geleistet, in denen Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger, Hebammen, Physiotherapeuten und andere Experten arbeiten. Diese Art der Kooperation soll es für die Patienten einfacher machen, an den gewünschten Arzt zu kommen. Ich glaube aber, sie dient dem schwedischen Gemüt an sich, das ganz wild auf jede Art von Effizienz und Gemeinschaftsarbeit ist.
Die Überraschung ist Sverker gelungen. Auf dem Weg in den ersten Stock spüre ich, wie Nervosität in mir aufsteigt. Die Dame an der Rezeption reagiert auf meine unsichere Nachfrage wegen eines Schwedischtests mitabgeklärter Freundlichkeit. Sie findet im Terminplan eines Doktors meinen Namen, knöpft mir um die 15 Euro Patientengebühr ab und winkt mich durch ins Wartezimmer. Dort sitzen allerhand Virusgrippen, Schnittwunden und Gipsbeine – und dazwischen zwei bekannte Gesichter. Der Engländer und eine Japanerin sind meine Mitstreiter. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Aber allmählich dämmert mir, weshalb es in Schweden ein paar Monate dauern kann, bis ein Patient einen Arzttermin bekommt, und er erst einmal telefonisch angewiesen wird, sich selbst zu heilen.
Wir aber sitzen schon kurz darauf vor Dr. Tobias Sundberg und Krankenschwester Frida, während von Sverker, der sich im Abendlicht an die Fensterbank schmiegt, wie bei Alice’ Katze im Wunderland nur ein Grinsen zurückbleibt. Der Arzt ist sein Bruder, der kurz vor Feierabend für derartige Experimente herhalten muss. Wir berichten Tobias und Frida in künstlich vollständigen und zeitlich korrekten Sätzen von allen möglichen früheren Verletzungen und Kinderkrankheiten, den letzten Infektionen und Impfungen und der aktuellen Medikamenteneinnahme. Trotz dieses Irrsinns läuft es ausgezeichnet; mir macht die Sache immer mehr Spaß, wohl weil ich langsam vergesse, dass wir in einer Schwedischprüfung sitzen.
Als wir über unser Sport- und Ernährungsprogramm diskutieren sollen, haut der Engländer kräftig auf
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