Ein kalter Strom
, die unter dieser befremdlichen Oberfläche wirkte, und es war eine der vielen Paradoxien in Tonys Leben, dass das, was ihm so viel persönliches Leid verursacht hatte, beruflich einen Vorsprung brachte. Vielleicht suchte er genauso wie die Täter selbst nach etwas, was ihm eindeutig das Gefühl nahm, ein Versager zu sein.
2. Die Auswahl seiner Opfer gibt ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Solche Menschen haben in ihm schon immer das Empfinden ausgelöst, langsam und naiv zu sein. Aber jetzt kann er sich in ihrer Welt bewegen, in ihren Bereich eindringen, und sie können nichts tun, um ihn aufzuhalten. Damit beweist er sich selbst, dass er nicht so unfähig ist, wie er glaubt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er eine akademische Ausbildung hat – ich glaube, nicht einmal das Abitur –, obwohl er gar nicht dumm ist. Bei der Strategie, die er, wie ich vermute, bei der Auswahl seiner Opfer anwendet (siehe unten), ist es wahrscheinlich, dass er sich selbst auf ihrem Fachgebiet gebildet hat. Er hat vermutlich viel über Psychologie und ihre Anwendung gelesen, sowohl in Büchern als auch online. Vielleicht hat er sogar Kurse an der Volkshochschule in diesem Fach besucht. Wahrscheinlich hält er sich für einen Experten auf seinem Gebiet, obwohl sein Wissen notwendigerweise oberflächlich sein muss.
3. Er ist sehr wohl zu großer Selbstbeherrschung und geordneter Planung in der Lage. Um sein Vorhaben auszuführen, hat er eine Strategie entwickelt, die raffiniert genug ist, um Opfer zu überzeugen, die im Umgang mit der Welt bewandert sind. Um dabei Erfolg zu haben, muss er in der Lage sein, seinen Mangel an Erfahrung mit ihrer Welt zu verbergen.
4. Er muss diese Serie von Angriffen schon lange vorausgeplant haben, da die Auswahl dieser Opfer vorbereitende Recherche erforderte, anders als bei der zufälligen Wahl eines Kandidaten nach gewissen körperlichen Merkmalen. Da die beiden letzten Morde so kurz aufeinander folgten, ist es klar, dass ihm eine Liste von Opfern vorliegen muss. Die Tatsache, dass die Zeiträume kürzer werden, deutet darauf hin, dass er selbstbewusster wird, aber auch, dass er mehr Morde braucht, um seinem Plan, was immer der sein mag, gerecht zu werden.
5. Worin mag dieser Plan bestehen? Die Antwort ergibt sich aus seinen Zielpersonen. Alle drei haben gemeinsam, dass sie als Psychologen an Universitäten tätig sind und Forschungsergebnisse veröffentlicht haben, die sich auf (mit Zustimmung der Versuchspersonen durchgeführte) Experimente stützen. Ich glaube, er ist überzeugt, dass sein Leben als Folge von Experimenten eines oder mehrerer Psychologen zerstört worden ist. Er könnte selbst ein direktes Opfer gewesen sein, aber ich bezweifle das. Wenn dies der Fall wäre, hätte er ein bestimmtes Objekt für seine Rache gehabt, und es hätte ihm wahrscheinlich genügt, diesen bestimmten Therapeuten zu töten. Vielleicht hat er in der Kindheit Missbrauch durch einen Elternteil oder einen anderen Erwachsenen erlitten, der selbst Opfer von Psychoterror war? Betrachtet man zum Beispiel den Missbrauch der Psychologie durch die Stasi, dann scheint dies nicht so unwahrscheinlich, wie es zu anderen Zeiten und an einem anderen Ort scheinen mag.
Tony las das, was er bis jetzt eingegeben hatte. Im Kontext dessen, was er aus den Akten hatte ersehen können, war es schlüssig. Aber es brachte sie der Frage nicht näher, wer der Täter sein könnte. Jetzt musste er sich von dem, was er gesichert annehmen und durch logische Rückschlüsse bestätigen konnte, lösen und in einen Bereich vorstoßen, in dem er hervorragend bewandert war. Er musste vom Verbrechen rückwärts auf den Mann schließen, der es begangen hatte.
Was sagt uns all dies über den Täter?
1. Er ist intensivem Stress ausgesetzt, was den Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung nicht verborgen bleiben wird. Sein Benehmen wird sprunghafter als gewöhnlich sein.
2. Er gibt sich als Journalist einer Internet-Zeitschrift aus, um sich privaten Zutritt zu denen zu verschaffen, die er aufs Korn genommen hat. Ich glaube, er hat die Verabredungen zu diesen Treffen mit seinen Opfern über E-Mail getroffen, da er wahrscheinlich nicht die Fertigkeit im Umgang mit Menschen hat, um mit seinen darin geübten Opfern entweder persönlich oder telefonisch Termine zu vereinbaren. Deshalb können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass er einen Computer besitzt. Er würde diese Kommunikation nicht einem System anvertrauen, das anderen zugänglich ist.
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