Ein kalter Strom
einen Sack voll melancholischer Flöhe unterrichten. Ich habe den Fehler gemacht, meine fortgeschrittene Spanischgruppe einen Aufsatz über ›Mein perfekter Sonntag‹ schreiben zu lassen. Die Hälfte der Mädchen hat schmalzige romantische Geschichten abgegeben, gegen die sich Barbara Cartland wie hartgesottener Realismus anhört. Und die Jungs haben alle über Fußball geschrieben.«
Tony lachte. »Es ist ein Wunder, dass die menschliche Spezies sich vermehren kann, so wenig wie Teenager mit dem anderen Geschlecht anzufangen wissen.«
»Ich weiß nicht, wer sehnsüchtiger die Minuten gezählt hat, bis es klingelte, sie oder ich. Manchmal denke ich, das ist doch für intelligente Erwachsene keine Art und Weise, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Man reißt sich die Beine aus, um ihnen die Wunder einer Fremdsprache näher zu bringen, und dann übersetzt jemand
coup de grâce
mit Rasenmäher.«
»Das hast du aber jetzt erfunden«, sagte er, nahm einen halben Champignon und zerkaute ihn.
»Ich wollt, es wäre so. Übrigens, als ich hereinkam, hat gerade das Telefon geklingelt, aber ich hatte zwei volle Einkaufstüten, da hab ich es dem Anrufbeantworter überlassen.«
»Ich sehe nach, wer es war. Was gibt’s denn heute?«, fügte er hinzu, während er zu seinem Büro ging, einem winzigen Raum im vorderen Teil des Häuschens.
»
Maiale con latte
mit geschmortem Gemüse«, rief ihm Frances nach. »Für dich: Schweinefleisch gegart in Milch.«
»Hört sich interessant an«, rief er zurück und drückte auf den Wiedergabeknopf des Anrufbeantworters. Ein langes Piepsen, dann hörte er ihre Stimme.
»Hi, Tony.« Es folgte ein langer Augenblick der Ungewissheit. Zwei Jahre Schweigen, nur ab und zu hatten sie in unregelmäßigen Abständen E-Mails ausgetauscht. Aber mehr als die drei kurzen Silben war nicht nötig, um die Schale zu durchbrechen, mit der er seine Gefühle umgeben hatte.
»Hier Carol.« Noch drei Silben, aber die waren völlig unnötig. Er hätte ihre Stimme auch inmitten von Rauschen und Krachen erkannt. Sie musste die Nachrichtenmeldung über Vance gehört haben.
»Ich muss mit dir sprechen«, fuhr sie fort und klang jetzt sicherer, sachlich und nicht so, als gehe es um etwas Persönliches. »Ich habe einen Einsatz vor mir, bei dem ich wirklich deine Hilfe brauche.« Sein Magen wurde bleischwer. Warum tat sie ihm das an? Sie kannte die Gründe, weshalb er die Täterprofile aufgegeben hatte. Ausgerechnet sie sollte ihn doch schonender behandeln.
»Es hat nichts mit Täterprofilen zu tun«, fügte sie hinzu und verhaspelte sich vor Eile, weil sie das Missverständnis aufklären wollte, das sie befürchtet hatte und dem er prompt so schnell erlegen war.
»Es ist etwas für mich. Etwas, was ich tun muss, ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll. Und ich dachte, du könntest mir helfen. Ich hätte eine E-Mail geschickt, aber ich meine, es wäre einfacher, es zu besprechen. Kannst du mich bitte anrufen? Danke.«
Tony stand bewegungslos da und starrte aus dem Fenster auf die leeren Fassaden der Häuser, die auf der anderen Straßenseite standen. Eigentlich hatte er nie geglaubt, dass Carol endgültig der Vergangenheit angehörte.
»Willst du ein Glas Wein?«, kam Frances’ Stimme aus der Küche und unterbrach sein Träumen.
Er ging in die Küche zurück. »Ich hol die Gläser«, sagte er und zwängte sich an ihr vorbei zum Kühlschrank.
»Wer war’s denn?«, sagte Frances harmlos, eher aus Höflichkeit als aus Neugier.
»Eine Kollegin von früher.« Tony versuchte sein Gesicht zu verbergen, während er den Korken zog und Wein in zwei Gläser goss. Er räusperte sich. »Carol Jordan. Von der Polizei.«
Frances runzelte besorgt die Stirn. »Ist das nicht diejenige, die …?«
»Ja, die, mit der ich bei den Fällen der beiden Serienmörder zusammengearbeitet habe.« Sein Tonfall ließ schließen, dies sei kein Thema, über das sie sprechen sollten. Sie kannte die Geschichte in groben Zügen, hatte aber immer gespürt, dass es etwas zwischen ihm und seiner ehemaligen Kollegin gab, was er verschwieg. Jetzt war vielleicht die Gelegenheit gekommen, dieses lang gehegte Geheimnis zu lüften und zu sehen, was sich dahinter verbarg.
»Ihr wart einander wirklich nah, oder?«, drängte sie.
»Die Arbeit an solchen Fällen bringt die Kollegen immer zusammen, solange sie damit zu tun haben. Man hat ein gemeinsames Ziel. Dann hinterher kann man sich nicht mehr ausstehen, weil man sich an Dinge erinnert,
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