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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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etwas Besonderes war, wofür ihn nie jemand gehalten hatte, der alte Mann schon gar nicht.
    Gunther war dabei, in der Kombüse das Frühstück zu machen, und hatte nicht bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Seine Arbeit verlief notgedrungen genauso routinemäßig wie die seines Kapitäns. Es war Manfred, der Maschinist, gewesen, der Alarm schlug. Beunruhigt, nichts von dem alten Mann zu hören, hatte er es gewagt, die Tür zu seiner Kajüte einen Spalt zu öffnen. Das Bett war leer, die Wolldecke so festgesteckt, dass ein Zweieurostück darauf bis zur Decke gehüpft wäre. Besorgt ging er aufs Deck hinauf und fing an zu suchen. Der Laderaum war leer, am Morgen sollte Schotter geladen werden. Manfred rollte eine Ecke der Zeltbahn zurück und stieg auf der Leiter hinunter, um vom Bug bis zum Heck überall nachzusehen, denn er fürchtete, dass der alte Mann vielleicht einen seiner nächtlichen Rundgänge auf dem Schiff unternommen hatte und entweder gefallen oder ihm übel geworden war. Aber der Laderaum war leer.
    Ein sehr ungutes Gefühl beschlich Manfred. Als er wieder an Deck war, ging er langsam am Rand entlang und starrte ins Wasser hinunter. Vorn am Bug sah er, was er befürchtet hatte. Zwischen dem Schiffskörper und den Pfosten der Anlegestelle schwamm der alte Mann mit dem Gesicht nach unten.
    Man zog daraus die offensichtlichen Rückschlüsse. Der Alte hatte zu viel getrunken und war über eine der Trossen gestolpert, mit denen das Schiff festgebunden war. Laut Obduktionsbericht hatte er sich beim Fall den Kopf angeschlagen und wahrscheinlich das Bewusstsein verloren. Wäre er auch nur benommen gewesen, so war doch durch das Zusammenwirken von Alkohol und Gehirnerschütterung das Ertrinken vorprogrammiert. Als offizielle Todesursache wurde Unfall angegeben. Niemand hatte dies auch nur eine Minute angezweifelt.
    Genau wie er es geplant hatte. Bis das Ergebnis feststand, hatte er geschwitzt, aber alles war so gelaufen, wie er es sich gewünscht hatte. Er war verwirrt, als er entdeckte, wie sich Freude anfühlte.
    Es war für ihn die erste Kostprobe der Macht, die er genoss wie Seide auf der Haut, und sie wärmte ihn wie Cognac, wenn er durch die Kehle rinnt. Endlich hatte er einen winzigen Funken Kraft in sich entdeckt, den die brutalen Demütigungen seines Großvaters nicht hatten auslöschen können. Er nährte diesen Funken mit Einbildungskraft, dann mit bitterem Hass und Abscheu vor sich selbst, bis er hell genug aufflammte, dass er ihn zur Tat drängte. Endlich hatte er dem sadistischen alten Kerl gezeigt, wer der wirkliche Mann war.
    Er hatte keine Gewissensbisse, weder unmittelbar danach noch später, als sich die Gespräche nicht mehr um den Tod seines Großvaters drehten, weil die Schiffsleute sich die neuesten Gerüchte erzählten. Wenn er daran dachte, was er getan hatte, ergriff ihn eine Leichtigkeit, die er nie zuvor gekannt hatte. Die Gier nach mehr brannte in seinem Inneren, aber er hatte keine Ahnung, wie er sie befriedigen konnte.
    So unwahrscheinlich das war, entdeckte er die Antwort darauf beim Begräbnis, zu dem sich eine erfreulich kleine Menge versammelt hatte. Der alte Mann war sein ganzes Erwachsenenleben Schiffer gewesen, aber er hatte nie ein Talent zur Freundschaft gehabt. Niemand machte sich genug aus seinem Tod, um eine Ladung mit Frachtgut aufzugeben und ihm vor der Einäscherung die letzte Ehre zu erweisen. Der neue Herr der
Wilhelmina Rosen
erkannte die meisten Trauergäste als Schiffsleute in Rente, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten.
    Aber als sie nach dem unpersönlichen Trauergottesdienst herauskamen, zog ihn ein älterer Mann, den er noch nie gesehen hatte, am Ärmel. »Ich kannte Ihren Großvater«, sagte er. »Ich würde Sie gern einladen, etwas mit mir zu trinken.«
    Er wusste nicht, was man sagte, um solche unerwünschten Verpflichtungen von sich fernzuhalten. Er war selten irgendwo eingeladen gewesen und hatte das nie lernen müssen. »Gut«, sagte er und entfernte sich mit dem Mann von der dürftigen Trauergemeinde.
    »Haben Sie ein Auto?«, fragte der ältere Mann. »Ich bin im Taxi gekommen.«
    Er nickte und ging zum alten Ford seines Großvaters voraus. Sobald die Rechtsanwälte ihm mitteilten, dass er über das Geld des alten Mannes verfügen konnte, plante er, dieses Auto loszuwerden. Sein Beifahrer lotste ihn von der Stadt weg aufs Land hinaus. Schließlich hielten sie bei einem Lokal an einer Straßenkreuzung. Der ältere Mann führte ihn in den

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