Ein kalter Strom
dass die Medizin im Großen und Ganzen die Bemühungen der Stasi, sie zu kontrollieren, abwehrte. Es gab unter den Ärzten eine sehr geringe Zahl interner Spitzel, und es wurde alles nur Mögliche getan, das Recht der Patienten auf die ärztliche Schweigepflicht aufrechtzuerhalten. Der Staat traute den Ärzten auch gar nicht zu, dass sie die Regierungspolitik zuverlässig vertreten würden.«
Tony konnte seine Enttäuschung über Wolfs Äußerungen nicht verbergen. Er war überzeugt gewesen, dass er mit seiner Vermutung Recht hatte. Aber es sah aus, als hätte er sich geirrt. Da die schuldigen Ärzte des alten kommunistischen Regimes öffentlich genannt worden waren, wären natürlich sie die Zielpersonen des Mörders gewesen, wenn er geglaubt hätte, dass seine Probleme auf die Stasi-Zeit zurückgingen, und er hätte keine Wissenschaftler aus dem Westen angegriffen.
»Sie sehen deprimiert aus, Dr. Hill. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht sagen konnte, was Sie gerne gehört hätten. Aber wenn Sie sich wirklich mit schwerem und weit verbreitetem Missbrauch von Psychiatrie und Psychologie in diesem Land befassen wollen, dann müssen Sie bis in die Nazizeit zurückgehen.«
»Das scheint jetzt doch alles sehr weit weg«, sagte Tony.
Wolf drückte seine Zigarette aus. »Nicht unbedingt. Vergessen Sie nicht, das Leben vieler Kinder wurde durch das Programm der Rassenhygiene zerstört. Manche dieser Kinder haben überlebt. Sie wären jetzt etwa in den Siebzigern. Das liegt immer noch in der Erinnerung der Überlebenden. Es ist gut möglich, dass sie ihre Geschichte ihren Kindern und Enkeln erzählt haben. Und natürlich sind die Leute, die für das verantwortlich sind, was ihnen angetan wurde, längst tot, so dass sie als Zielobjekte nicht in Frage kommen.«
Tony wurde munter, als ihm die Bedeutung von Wolfs Worten klar wurde. »Gibt es Unterlagen aus der Zeit, als sie in die psychiatrischen Anstalten gebracht wurden?«
Wolf nickte. »Die Nazis haben peinlich genau, fast zwanghaft, Buch geführt. Das gehört mit zum Deprimierendsten an ihnen, fand ich immer. Sie mussten für das, was sie taten, eine Rechtfertigung finden, die über die Bedienung von Hitlers Wunsch, eine Herrenrasse zu begründen, hinausging. Deshalb redeten sie sich ein, dass sie echte wissenschaftliche Forschung betrieben. Es gibt Aufnahmelisten, Unterlagen zu den Todesursachen und zu vielen Experimenten, die sie durchführten.«
Tonys Puls schlug schneller. »Wo werden diese Unterlagen aufbewahrt?«
»Es gibt ein Schloss am Rhein, Schloss Hohenstein, sie nannten es damals ›Institut für Entwicklungspsychologie‹. In Wirklichkeit war es eine Zentralstelle für Euthanasie und nebenbei auch für radikale psychologische Experimente. Nach dem Krieg wurde es das Dokumentationszentrum für das Nazi-Euthanasieprogramm. Es ist auch eine Touristenattraktion, allerdings wird dieser besondere Aspekt der Schlossgeschichte nicht erwähnt«, sagte Wolf und verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. »Unsere Vergangenheitsbewältigung geht nur bis zu einem gewissen Punkt. Wir wollen nicht zugeben, dass wir tatenlos zugesehen haben, wie man unsere eigenen Kinder umbrachte.«
»Nun, ich verstehe, dass das ein harter Brocken für das nationale Gewissen sein mag«, sagte Tony. »Kann ich denn auf diese Akten Zugriff bekommen?«
Wolf lächelte, und seine dünnen Lippen gaben seine gelben Zähne frei. »Normalerweise würde es eine Weile dauern, bis man die nötige Erlaubnis erhält. Aber ich bin sicher, dass Petra Ihnen einen Weg durch das Dickicht der Bürokratie bahnen wird. Sie ist sehr gut, wenn es darauf ankommt, ihren Willen durchzusetzen.«
Tony verzog das Gesicht. »Das habe ich schon gemerkt.« Er schob seinen halb ausgetrunkenen Kaffee weg. »Sie haben mir sehr geholfen, Herr Dr. Wolf.«
Der andere Mann zuckte ironisch die Schultern. »Jede Ausflucht ist recht, um eine Stunde von der Uni wegzukommen.«
»Das Gefühl kenne ich«, sagte Tony und wurde sich klar, dass er im Stillen jenes Leben schon hinter sich gelassen hatte. »Ich werde Petra sagen, dass sie Ihnen einen Drink schuldet.«
Wolf lachte. »Darauf werde ich mich nicht verlassen. Viel Glück im Schloss.«
Und Tony hatte tatsächlich das Gefühl, das Glück auf seiner Seite zu haben. Eine Wendung kündigte sich an, die ihm erlauben würde, statt auf vage Vermutungen auf echte Möglichkeiten zu setzen. Und es war keinen Augenblick zu früh. Die Eskalation zu unverhüllter sexueller
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