Ein kalter Strom
gewesen sein?«
»Ich habe daran gedacht, ja.«
Wolf zündete sich stirnrunzelnd eine Zigarette an. »Wenn es um Missbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke geht, gibt es in den westlichen Ländern die Tendenz, die Stasi mit den Zuständen in der Sowjetunion in einen Topf zu werfen. Aber tatsächlich waren die Verhältnisse in Deutschland ganz anders. Der Stasi standen immense Mittel zur Verfügung, die sie nutzte, um ein einzigartiges Netzwerk von Spitzeln aufzubauen. Man schätzt, dass jeder Fünfzigste in der Bevölkerung auf diese Weise direkt mit der Stasi in Verbindung stand.
Man baute auf ein Prinzip, das sich ›Zersetzung‹ nannte. ›Maßnahmen der Zersetzung‹ bedeutete, dass man bei den Menschen das Gefühl erzeugte, jede Handlungsmöglichkeit sei ihnen genommen. Sie waren als Bürger ohnmächtig, weil sie überzeugt waren, dass alles reguliert wurde. Einer meiner Kollegen hat das ›die schonungslose Anwendung einer heimlichen Zwangsherrschaft, die zu Willfährigkeit führt‹ genannt.
Die Unterdrückung durch die Stasi war raffiniert. Die Menschen waren überzeugt, dass schon eine flüchtige Bemerkung in einer Kneipe sie alle Chancen ihres beruflichen Fortkommens kosten konnte. Kindern wurde beigebracht, jede jugendliche Aufmüpfigkeit bewirke, dass sie keine Zulassung zur Universität bekämen. Andererseits war Mitmachen der Weg zu einem besseren Leben. Es gab also die zwei eng verbundenen Methoden der Beeinflussung durch Gewährung von Vorteilen und der Erpressung durch Benachteiligung.
Die Stasi-Leute nahmen sich Menschen vor, die sie für die Kollaboration für empfänglich hielten, und redeten ihnen dann ein, dass sie damit etwas Gutes leisten würden. Wenn man in einer Kultur lebt, wo einem ständig eingebläut wird, man sei machtlos, ist es eine große Versuchung, wenn einem eine Chance geboten wird, aktiv etwas zu tun. Und natürlich ist es sehr schwierig, diese Menschen hinterher zu stellen und zu bestrafen, weil sie glaubten, das Richtige zu tun. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat im Nachhinein das Leben vieler Menschen vergiftet, weil die Offenlegung ihrer Akten sie zwang zu sehen, wie sie von ihren Frauen, Ehemännern, Kindern, Eltern, Freunden und Lehrern betrogen wurden.
Sie sehen also, es gab kaum eine Notwendigkeit für den Staat, die Psychiatrie zu missbrauchen. Die Bevölkerung war sowieso schon in die Unterwürfigkeit gezwungen worden.«
Tony schien skeptisch. »Aber es gab doch Dissidenten. Es gab Menschen, die eingesperrt und gequält wurden. Ich habe gelesen, dass manche Aktivisten eine Zeit lang in psychiatrischen Anstalten saßen, damit sie nicht an geplanten Aktionen gegen den Staat teilnehmen konnten. Man kann doch wohl nicht behaupten, es habe in der Medizin keinen Missbrauch gegeben?«
Wolf nickte. »Ja, Sie haben schon Recht. Es gab solche Fälle, aber sie waren relativ selten. Und die meisten sind inzwischen aufgedeckt. Etwa dreißig Psychiater sind in Verruf geraten, weil sie sich für diese Zwecke einspannen ließen, aber das war eine kleine Minderheit. Und ihre Namen sind bekannt. Wenn Ihr Täter für Geschehnisse aus der Stasi-Zeit Rache üben wollte, hätte er nicht lange nach den Verantwortlichen zu suchen brauchen. Im Großen und Ganzen waren ihre Verbrechen wirklich unbedeutend. Denn, sehen Sie, die Stasi hatte ja eine einzigartige Methode, die Dissidenten loszuwerden. Sie verkaufte sie an Westdeutschland.«
»Wie bitte?«
»Ja, so war es. Jedes Jahr erkaufte die Bundesrepublik die Freiheit ostdeutscher Häftlinge, die unliebsame Ansichten geäußert oder sich an staatsfeindlichen Aktionen beteiligt hatten. Ich meine damit nicht nur Prominente wie Schriftsteller und Künstler. Ich spreche von Menschen aus allen sozialen Schichten. Es war also wirklich nicht notwendig, die Vertreter der Psychiatrie einzuspannen.«
Tony hatte nicht erwartet, so etwas von einem westdeutschen Historiker zu hören. »Sie untergraben damit allerdings meine Vorurteile«, sagte er sarkastisch.
»Sie brauchen sich nicht auf mich zu verlassen. Es gibt Studien sowohl von Wissenschaftlern als auch von Regierungsstellen. Sie sind alle zum gleichen Ergebnis gekommen. Ein paar isolierte Vorfälle, bei denen durch Psychoterror der Wille der Menschen gebrochen wurde, aber dabei kamen sehr wenige Misshandlungen vor. Wenn Sie Einzelheiten der dokumentierten Fälle haben möchten, ich habe einen Kollegen, der sie wahrscheinlich beschaffen kann. Sie sollten auch nicht vergessen,
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