Ein kalter Strom
Gewalt in Köln hatte gezeigt, dass sie dem Mörder Einhalt gebieten mussten, bevor er noch mehr ausrastete. Tony konnte sich leicht vorstellen, dass er periodisch weitermorden und schließlich in einer Universität mit einem Maschinengewehr um sich schießen könnte, bevor er sich selbst die Kugel gab. Es war an der Zeit, dem ein Ende zu machen. Er spürte, wie die Erwartung ihn erregte.
Ich werde dich kriegen
,
Geronimo
, dachte er, als er aus dem Café in den frischen Frühlingstag hinaustrat.
Carol warf ihren Rucksack durch die Schlafzimmertür und ging ins Wohnzimmer. Ihre Nasenflügel zuckten. Sie hätte schwören können, dass sie einen ganz leichten Zigarrengeruch wahrgenommen hatte. Entweder hatte der Bewohner der Räume unter ihr ein ganzes Kistchen Havannas gepafft, oder jemand war hier gewesen. Sie lächelte. Sie hatte vorausgesehen, dass sie die Wohnung durchsuchen würden, genauso wie sie den Schnüffler erwartet hatte, der ihr auf dem Weg zum Fitnesscenter gefolgt war. Sie wäre eher besorgt gewesen, wenn nichts Derartiges geschehen wäre. Das hätte bedeutet, dass Radecki sie wohl als Frau ernst nahm, aber nicht als potentielle Geschäftspartnerin.
Aber es war interessant, dass sie gerade zu der Zeit, als sie im Fitnesscenter war, die Wohnung durchsucht hatten. Wäre sie für die Organisation verantwortlich gewesen, hätte sie eine ganz andere Zeit gewählt. Zum Beispiel, während sie mit Radecki auf dem Fluss unterwegs war. Dann hätten die Suchenden sicher sein können, mindestens drei Stunden in ihrer Wohnung zur Verfügung zu haben. Das Timing und der leichte Geruch in der Luft ließen sie überlegen, ob Radecki vielleicht beschlossen hatte, die Suche selbst durchzuführen. Wenn es so war, zeigte es, wie sehr er ihrem Zauber schon erlegen war. Ein Mann, der wirklich verknallt war, würde nicht wollen, dass einer seiner Kulis in ihrer Wäscheschublade herumschnüffelte.
Carol ging zum Bücherregal hinüber, nahm das Radio herunter, schob die Abdeckplatte zurück und lächelte zufrieden, als die Festplatte ihr in die Hand rutschte. Sie hätten sie niemals hier gelassen, wenn sie sie gefunden hätten. Aber es war immer besser, sich zu vergewissern. Sie verband sie mit dem Laptop und schaltete ihn an. Dann öffnete sie das spezielle Sicherheitsprogramm, das die Betriebszeiten verzeichnete, und stellte fest, dass das externe Laufwerk nicht genutzt worden war, seit sie abgeschaltet hatte. Jetzt startete sie das Verschlüsselungsprogramm und schickte E-Mails an Morgan und Gandle, in denen sie ihnen mitteilte, dass sie überwacht wurde und die Wohnung durchsucht worden sei. Sie las eine E-Mail von Morgan, der ihr zu ihrem bisherigen Erfolg gratulierte und sie darauf hinwies, dass Krasic über sie Erkundigungen eingezogen hatte. Er versicherte ihr, dass ihre Tarnung dieser Prüfung standgehalten hatte.
Als ob du Bescheid wüsstest, wenn es nicht so wäre
, dachte sie sarkastisch.
Sie fragte sich, wie es Tony ging. Denn sie wusste, dass was immer er gerade tat ihn mitnehmen würde. Die Folgen der Gewalttaten für die Opfer hatten Tony immer tief berührt. Es stimmte, dass die Mörder ihn faszinierten. Aber eine Fallanalyse war nie eine trockene akademische Übung für ihn gewesen. Das Schicksal der Toten ließ ihn nicht kalt. Wie sie selbst glaubte auch er, dass Ermittler lebende Repräsentanten der Ermordeten und Verstümmelten waren. Ihre Rolle war es nicht, für alttestamentarische Rache zu sorgen, sondern eher für die Hinterbliebenen die Sache zu einer Art Abschluss zu bringen und das Leben weiterer potentieller Opfer zu schützen.
Einesteils wünschte sie sich, sie wäre mit ihm draußen im Einsatz, aber ihre eigene Operation war so anspruchsvoll und aufregend, dass dieser Wunsch sich nur leise im Hintergrund meldete. In der jetzigen Situation war sie damit zufrieden, ihn sich selbst zu überlassen, denn sie war sicher, wenn die ganze Sache vorbei war, würde sich die Welt für sie beide verändert haben.
Marijke war dem Berg von Papierkram im Büro entkommen und ging auf Pieter de Groots Haus am Kanal zu. Sie reagierte damit auf einen Anruf von Hartmut Karpf in Köln, dessen Team bei der Durchsuchung von Marie-Thérèse Calvets Aktenschrank etwas Merkwürdiges gefunden hatte. Eigentlich brachte es die Ermittlung nicht viel weiter voran, aber sie hatte das Gefühl, dass Tony sich außerordentlich dafür interessieren würde.
Außerdem hatte es den Vorteil, dass sie den finsteren Blicken
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