Ein kalter Strom
ihrer Gruppe ausweichen konnte, der sie aufgetragen hatte, jedes Binnenschiff aufzuspüren, das sich am Tag von de Groots Ermordung in einem Fünfzig-Kilometer-Umkreis von Leiden befunden hatte. Sie hoffte, dass ihre deutschen Kollegen genauso eifrig bei der Arbeit waren, damit sie dann die Ergebnisse vergleichen konnten. Andernfalls wäre diese Übung völlige Zeitverschwendung. Wenn sie irgendwelche Zusammenhänge entdeckten, könnten die deutschen Kollegen überprüfen, ob irgendeiner der Schiffer auch einen dunklen Golf besaß. Mit sehr viel Glück und Ausdauer konnten sie vielleicht so viele Verdächtige finden, dass Tonys Profil wirklich etwas brachte.
Sie hatte auch einen ihrer Ermittler zur Universitätsbibliothek geschickt, der nachsehen sollte, ob er Briefe oder Artikel finden konnte, die sich kritisch über die Arbeit Pieter de Groots und der anderen Opfer äußerten. Sie hatte noch weniger Hoffnung, dass diese ausgefallene Idee von Carol ein lohnendes Ergebnis bringen würde, war aber trotzdem entschlossen, jede Ermittlungsrichtung zu nutzen und jede Theorie zu überprüfen.
Marijke musste zugeben, dass sie von dem enttäuscht war, was sie bis jetzt geschafft hatten. Sicher, sie wusste, dass Fallanalytiker keine Wunder vollbringen konnten, aber sie hatte sich doch etwas Konkreteres erhofft, als Tony ihnen hatte geben können. Vielleicht waren ihre Hoffnungen einfach zu hochgespannt gewesen. Es sah aus, als gebe es nur eine Möglichkeit, diese Fälle zu lösen, nämlich durch traditionelle, mühsame Polizeiarbeit, die nicht spektakulär war, aber manchmal doch Ergebnisse brachte.
Es war merkwürdig, wieder in Pieter de Groots Arbeitszimmer zu sein. Es gab wenig Spuren des Geschehens. Nur einen Wasserfleck auf der glänzenden Schreibtischplatte und ein paar Überreste des Puders, mit dem die Techniker die Fingerabdrücke genommen und danach nicht richtig sauber gemacht hatten. Maartens würde das nicht gefallen, dachte sie, obwohl das jetzt nichts zur Sache tat. Er hasste es, wenn das Spurensicherungsteam an einem Tatort mehr Unordnung hinterließ, als es vorgefunden hatte.
Jetzt lag überall im Zimmer eine dünne Staubschicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Reinigungskraft in nächster Zukunft wiederkommen würde. Und bis jetzt gab es keine Anzeichen dafür, dass de Groots Exfrau aufgetaucht war, um das Erbe ihrer Kinder zu fordern. Wahrscheinlich hatte sie unter diesen Umständen wenig Lust, in das ehemalige Zuhause der Familie zurückzukehren.
Marijke wandte sich dem Aktenschrank zu. Zuerst würde sie das Nächstliegende versuchen und unter de Groot nachsehen. Sie streifte ein Paar Latexhandschuhe über, zog die entsprechende Schublade auf und ging mit den Spitzen ihrer langen Finger die Akten durch.
Und da war es – wie durch ein Wunder. Genau wie Karpf vorhergesagt hatte. Ein ganz normaler Aktenhefter in einer Hängekartei, der sich von den anderen nur durch seine etwas hellere braune Farbe unterschied. Er hatte oben keinen Karteireiter, sondern trug nur ein normales, aufgeklebtes weißes Schildchen mit der gedruckten Aufschrift »Pieter de Groot. Fallbericht«.
Marijke nahm den Hefter vorsichtig aus der Schublade und ging damit zum Fenster, um den Inhalt besser lesen zu können. Zuerst betrachtete sie genau die Außenseite der Akte, und als sie einen schwachen Schmierfleck von etwas Dunklem entdeckte, das auf der unteren Ecke der Rückseite wie Öl glänzte, ergriff sie Erregung. Sie roch daran, konnte aber nichts daraus schließen. Dann schlug sie den Hefter auf. Ein einzelnes Blatt Papier lag darin.
Fallbericht
Name: Pieter de Groot
Sitzung Nummer: 1
Bemerkungen: Auffällig ist bei diesem Patienten der Mangel an Gemütsbewegungen. Er ist zu keiner inneren Teilnahme fähig und zeigt eine beunruhigende Passivität. Nichtsdestoweniger schätzt er seine eigenen Fähigkeiten hoch ein. Das einzige Thema, über das zu sprechen er bereit scheint, ist seine eigene intellektuelle Überlegenheit. Sein Selbstbild ist maßlos übersteigert.
Seine Leistungen, die man bestenfalls als mittelmäßig bezeichnen kann, rechtfertigen diese Haltung nicht. Ein Kreis von Kollegen, in den er eingebunden ist, unterstützt jedoch diese Sicht seiner Fähigkeiten, und aus unerfindlichen Gründen ist dort keinerlei Bereitschaft erkennbar, seine Selbsteinschätzung zu hinterfragen …
Marijke las weiter und staunte immer mehr. Wenn man den Aussagen seiner Freunde und Kollegen glauben
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