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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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verringerte.
    Allein in seiner Kajüte, schloss er eine kleine, mit Messing beschlagene Kiste auf, die seinem Großvater gehört hatte, und betrachtete den Inhalt: zwei Schraubgläser, die ursprünglich Gewürzgurken enthalten hatten; aber was jetzt in ihnen herumschwamm, war sehr viel schauriger. Im Formalin, das er von einem Bestattungsunternehmen entwendet hatte, schwamm die Haut, die ihre helle Fleischfarbe verloren und jetzt einen Farbton wie Tunfisch aus der Dose angenommen hatte. Einige kleine Muskeln waren dunkler und zeichneten sich auf der Haut ab wie ein Querschnitt durch ein leicht gegrilltes Tunfischsteak. Die Haare waren noch gekräuselt, hatten aber jetzt die raue Stumpfheit einer schlechten Perücke. Trotzdem konnte kein Zweifel bestehen, was er da betrachtete.
    Als er sich früher in Phantasien darüber ergangen hatte, war ihm klar, dass er ein Andenken brauchen würde, das ihn daran erinnerte, wie gut er seine Sache gemacht hatte. Er hatte Bücher über Mörder gelesen, die Brüste herausgeschnitten, Genitalien entfernt und die Haut ihrer Opfer abgezogen und zu Kleidung verarbeitet hatten. Aber all dies schien nicht das Richtige zu sein. Sie alle waren merkwürdige, perverse Typen, wogegen er von einem reineren Motiv angetrieben wurde. Er wollte etwas, das eine besondere Bedeutung für ihn allein besaß.
    Er dachte an die Demütigungen, die er unter den Händen des alten Mannes hatte erleiden müssen. Seine Erinnerung daran hatte keine undeutlichen Stellen. Selbst regelmäßig wiederholte Quälereien waren nicht zu einem großen Bild zusammen geflossen. Alle Details jeder einzelnen Kränkung fühlte er spitz und scharf wie Nadelstiche. Was konnte er nehmen, das seinem Ziel Schärfe, Klarheit und Bedeutsamkeit verleihen würde?
    Und dann erinnerte er sich an die Rasur. Es war bald nach seinem zwölften Geburtstag gewesen, ein Tag, der sich nicht durch Geschenke oder Glückwunschkarten von anderen abhob. Er wusste überhaupt nur, dass es sein Geburtstag war, weil er ein paar Monate zuvor seine Geburtsurkunde gesehen hatte, als der alte Mann beim Sortieren von Unterlagen saß. Bis dahin hatte er kein Datum sein Eigen nennen können. Es hatte für ihn niemals auch nur eine Geburtstagskarte, schon gar keine Geschenke, Kuchen oder Feste gegeben. Wen hätte er auch zu einer Geburtstagsparty einladen können? Er hatte keine Freunde und keine weitere Familie. Soweit er wusste, kannte niemand außer der Mannschaft der
Wilhelmina Rosen
auch nur seinen Namen.
    Er hatte gewusst, dass er irgendwann im Herbst geboren war, weil die ewigen Wutausbrüche, die an seine Ohren drangen, in der Zeit, wenn sich die Blätter färbten, eine Änderung erfuhren. Statt »Du bist acht, aber du benimmst dich immer noch wie ein kleines Kind« knurrte der alte Mann dann: »Jetzt bist du neun. Es ist Zeit, dass du lernst, Verantwortung zu übernehmen.«
    Ungefähr zu der Zeit, als er zwölf wurde, hatte er die Veränderungen an sich bemerkt. Er war gewachsen, seine Schultern sprengten fast die Nähte seines Flanellhemds. Seine Stimme war unzuverlässig geworden und sprang zwischen den Tonlagen hin und her, als sei er von einem Dämon besessen. Und um seinen Schwanz herum fingen dunkle, dicke Haare an zu wachsen. Er hatte sich gedacht, dass dies irgendwann geschehen würde. Denn er hatte lange genug auf engstem Raum mit drei erwachsenen Männern gelebt und begriff, dass sein Körper irgendwann wie ihre werden würde. Aber die Wirklichkeit war einfach nur eine weitere Quelle der Angst. Er ließ die Kindheit hinter sich, ohne ein klares Bild davon, wie er jemals zum Mann werden würde.
    Auch sein Großvater hatte die Veränderungen bemerkt. Es war schwer vorstellbar, dass er noch brutaler sein könnte, und doch schien er eine Herausforderung darin zu sehen, neue Möglichkeiten der Erniedrigung zu finden. Die Dinge hatten einen neuen Höhepunkt des Schreckens erreicht, als sie im Hamburger Hafen lagen und eines Morgens eine Trosse riss. Es war einer jener Vorfälle, an denen niemand Schuld hatte, aber der alte Mann war entschlossen, jemanden dafür büßen zu lassen.
    Als sie in die Wohnung kamen, hatte er dem Jungen befohlen, sich auszuziehen. Er stand zitternd in der Küche und fragte sich, welche der bekannten Qualen ihn erwartete, während sein Großvater fluchte, ihn beschimpfte und wütend ins Bad lief. Als der alte Mann zurückkam, hatte er sein mörderisches Rasiermesser dabei, die aufgeklappte Klinge glänzte silbern im

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