Ein kalter Strom
konnten. Sie waren sich beide bewusst, dass sie einen besonders guten Draht zueinander hatten, scheuten sich aber doch, zu schnell ein persönliches Treffen anzustreben, das vielleicht das zerstören konnte, was sie schätzten.
Und so hatten sie die Gewohnheit entwickelt, an mehreren Abenden der Woche miteinander eine Stunde oder so in der virtuellen Realität zu verbringen. Heute Abend hatten sie nichts abgesprochen, aber Marijke wusste, dass Petra, wenn sie zu Hause war und nicht schlief, in einem der öffentlichen Chatrooms der Website lesbischer Polizistinnen sein würde und dass sie sie zu einer privaten Unterhaltung weglocken könnte.
Sie rief die Website auf und klickte auf »chat«. Es gab eine Themenliste, und sie ging gleich zum Diskussionsforum, wo man oft über die Auswirkungen der Politik auf die Polizeiarbeit sprach. Ein halbes Dutzend Leute war in eine hitzige Debatte über Aufträge als Agentinnen verwickelt, und die Meinungen flogen so schnell durch die Gegend, wie die Finger tippen konnten, aber Petra war nicht dabei. Marijke verließ den Chatroom und klickte das Thema Lesbenprobleme an. Diesmal hatte sie Glück. Petra war eine der drei Frauen, die einen Fall besprachen, der kürzlich in Dänemark passiert war, wo eine lesbische Vergewaltigung vorgekommen sein sollte. Aber sobald sie Marijkes Namen auf dem Bildschirm sah, klinkte sie sich dort aus und ging mit ihr in einen abgelegenen Bereich, wo sie ihre Botschaften austauschen konnten, ohne dass alle mitlasen.
Petra:
Hallo, Schatz, wie geht’s dir heute Abend?
Marijke:
Ich bin gerade erst gekommen. Wir hatten heute einen Mord.
Petra:
Das ist ja nie besonders spaßig.
Marijke:
Stimmt. Und es war wirklich ein besonders gruseliger.
Petra:
Familienkrach? Oder auf der Straße?
Marijke:
Weder noch. Die allerschlimmste Sorte. Ritualmord, sorgfältig ausgeführt, bis jetzt keine Verdächtigen. Eine persönliche Sache, aber in der Durchführung eher unpersönlich, wenn du verstehst, was ich meine.
Petra:
Wer ist das Opfer?
Marijke:
Ein Professor der Universität Leiden, Pieter de Groot. Seine Reinigungskraft hat die Leiche gefunden. Er war zu Hause in seinem Studierzimmer nackt auf dem Tisch festgebunden. Wurde ertränkt – mit einem Trichter oder einem Schlauch, der ihm in den Mund gesteckt und in den dann Wasser geschüttet wurde.
Petra:
Grässlich. Gehörte er zu den Wissenschaftlern, die Tierexperimente machen?
Marijke:
Er war experimenteller Psychologe. Ich weiß nicht viel über sein Forschungsgebiet. Aber ich nehme nicht an, dass die Sache mit Tierschützern zu tun hat. Ich schätze, es war eine persönliche Abrechnung. Es gibt nämlich noch mehr Informationen. Der Täter, wer immer es war, hat es nicht beim Mord bewenden lassen. Es liegt auch Verstümmelung vor.
Petra:
Der Genitalien?
Marijke:
Ja und nein. Der Killer hat das Glied und die Hoden unverletzt gelassen, hat aber das Schamhaar entfernt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es war fast schlimmer, als sei er kastriert worden. Was bei einem sexuell motivierten Mörder verständlicher und typischer gewesen wäre.
Petra:
Weißt du, das erinnert mich an irgendwas. Ein Rundschreiben, in das ich mal kurz reingesehen habe. Keins von unseren, ein Hilferuf aus einem anderen Polizeibezirk.
Marijke:
Meinst du damit, dass es in Deutschland einen ähnlichen Fall gegeben hat?
Petra:
Ich kann’s nicht genau sagen. Aber irgendwas steckt mir da im Kopf. Ich werde im Büro-Computer mal eine Suche starten.
Marijke:
So was Tolles wie dich verdiene ich gar nicht.
Petra:
Nein, du verdienst noch viel Besseres. Also, wir haben das berufliche Getratsche erledigt, willst du jetzt über was Persönlicheres reden?
Marijke lächelte. Petra hatte sie bereits daran erinnert, dass es im Leben noch mehr gab als Mord. Endlich sah sie eine Möglichkeit, zum Schlaf zu finden.
Kapitel 10
D ie
Wilhelmina Rosen
lag ungewöhnlich hoch im Wasser. An diesem Morgen war sie ihr Frachtgut losgeworden, aber wegen eines Versehens der Agentur war die Ladung der neuen Fracht vom Nachmittag auf den folgenden Tag verschoben worden. Er war nicht übermäßig unruhig. Den Tag konnte er wahrscheinlich auf der Weiterfahrt wieder aufholen, selbst wenn das bedeutete, dass er die Vorschriften über die Länge ihrer Dienststunden leicht übertrat. Und der Mannschaft war es mehr als recht. Sie würden sich nicht beklagen, eine Extranacht in Rotterdam an Land zu sein, da sich ihre Heuer durch die Verzögerung nicht
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